Der 1954 geborene Kläger ist als Folge eines Schädel-Hirn-Traumas, welches er sich im März 1998 bei einem Motorrad-Unfall zugezogen hatte, nahezu völlig erblindet und linksseitig gelähmt. Er bewohnt seit Januar 1999 ein Appartement in der Q in E. Der Kläger erhält Hilfe zum Lebensunterhalt und - seit dem 1. Januar 1999 - Blindengeld nach dem Gesetz über Hilfen für Blinde und Gehörlose (Stand Januar 1999: 1.082 DM). Der Kläger ist nicht krankenversichert.
Durch Beschlüsse vom 19. Februar 1999 und vom 13. August 1999 wurde Rechtsanwalt L aus E zum vorläufigen
bzw. endgültigen Betreuer des Klägers bestellt. Die Betreuung wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt aufgehoben.
Mit Schreiben vom 28. Juni 1999 beantragte der Kläger durch seinen Betreuer beim Sozialamt der Stadt E eine Lesemaschine (Lesesprechgerät), deren Kosten mit "
ca. 8.000 DM" angegeben wurden.
Mit Schreiben vom 8. November 1999 bat der Beklagte, an den der Antrag zuständigkeitshalber weitergeleitet worden war, den Betreuer des Klägers, zur Versorgung des Klägers mit dem beantragten Hilfsmittel ausführlich Stellung zu nehmen. Hierauf teilte der Betreuer des Klägers dem Beklagten mit, der Kläger sei in keiner Weise an den Heimbereich angebunden. Das begehrte Lesesprechgerät solle dem Kläger dazu dienen, sein gesetzlich garantierte Kommunikationsrecht auszuüben. Ohne ein solches Hilfsmittel könne er an ihn adressierte Post weder lesen noch beantworten.
Durch Bescheid vom 1. Februar 2000 lehnte der Beklagte den Antrag auf Übernahme der Kosten für eine Lesemaschine mit im Wesentlichen folgender Begründung ab: Die Post des Klägers werde in behördlichen Angelegenheiten an den Betreuer gesandt. Es könne sich nur um private Post handeln, die der Kläger selber lesen und beantworten möchte. Da er sich in der Einrichtung "Q" in E befinde, könne der Kläger andere Bewohner, die Mitarbeiter der Einrichtung oder den Betreuer bitten, die Post vorzulesen und zu beantworten. Das Blindengeld schaffe die Möglichkeit, diese Leistung Dritter adäquat zu entlohnen.
Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, es könne ihm nicht zugemutet werden, dass ihm andere seine private Post vorläsen. Hier sei die Vertraulichkeit des Wortes nicht gewahrt. Ausschließlich der Betreuer unterliege einer Schweigepflicht. Die Bearbeitung der persönlichen Post des Betreuten gehöre aber nicht zu seinen Aufgaben.
Durch Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 2000 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück und führte zur Begründung aus: Die Notwendigkeit der Anschaffung eines Lesesprechgerätes sei nicht nachgewiesen. Für eine sozialhilferechtliche Notwendigkeit sei es unerlässlich, dass das Hilfsmittel mehrmals täglich in Anspruch genommen werde. Bei der Prüfung der Frage, ob der Wunsch des Hilfesuchenden angemessen ist, seien alle Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen. Ob ein Wunsch angemessen sei, beurteile sich nicht ausschließlich nach finanziellen Gesichtspunkten. Jedoch verlange das für die Gewährung von Sozialhilfe geltende Bedarfsdeckungsprinzip, das auf die Gewährung der notwendigen Hilfen gerichtet sei, eine Begrenzung des Wunschrechts, insbesondere im Hinblick auf die damit verbundenen Kosten. Welche Maßnahme der Eingliederungshilfe in Betracht komme, sei nach den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen zu beurteilen. Aussagen, wonach für den Kläger die Beschaffung eines Leseschreibgerätes aus medizinischer Sicht erforderlich wäre, seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Es sei auch nicht erkennbar, aus welchem Grund der Kläger nicht auf den Einsatz des Blindengeldes verwiesen werden könne, weil er hierdurch die Möglichkeit habe, etwaige Leistungen Dritter adäquat zu entlohnen.
Mit Schreiben vom 29. Juni 2000 hatte der Kläger erneut einen Antrag auf ein Vorlesesystem gestellt und hierzu eine augenärztliche Bescheinigung des
Dr. D vom 3. Mai 2000 vorgelegt, in der ausgeführt ist:
Bei dem o.g. Patienten besteht Blindheit im Sinne des Gesetzes. Herr L ist auch mit einem Bildschirmlesegerät oder anderen vergrößernden Hilfsmitteln nicht in der Lage Zeitungsdruck zu lesen. Aus diesem Grunde halte ich ein Vorlesesystem für indiziert um die Selbständigkeit von Herrn L weiter auszubauen. Zwischenzeitlich ist ein Test mit einem Schrifterkennungssystem der
Fa. S durchgeführt worden. Es gab keine Probleme bei der Handhabung. Ich bitte Sie die Möglichkeit der Verordnung eines Vorlesesystems zu überprüfen.
Der Kläger hat am 26. Juli 2000 Klage erhoben, die er im Wesentlichen wie folgt begründet:
Er sei aufgrund seiner Sehstörung ohne die hier beantragte Sehhilfe nicht in der Lage, irgendwelche Schriftstücke persönlich wahrzunehmen. Dies betreffe also nicht nur das Lesen von Zeitungen und Zeitschriften, sondern das Lesen privater Korrespondenz, vertraglicher Unterlagen bis hin zu Kontoauszügen. Um überhaupt Kenntnis solch höchst privater Vorgänge nehmen zu können, müsse er derzeit die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen, die somit zwangsläufig in seine privaten Dinge einbezogen würden. Es sei mit seinen grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrechten nicht vereinbar, wenn seine private Kommunikation nur unter Zuhilfenahme Dritter möglich sei. Auch in einem Seniorenheim unter dem Dach einer gemeinschaftlichen Organisation bestehe nicht die Pflicht, zur Kostenabwendung letztlich unbekannte Heimbewohner in höchst persönliche Angelegenheiten einzuweihen und zwangsläufig ins Vertrauen zu ziehen. Auch die Aufgabe eines amtlich bestellten Betreuers bestehe nicht darin, dem Betreuten täglich zur Verfügung zu stehen, um als eine Art Privatsekretär mit diesem Post zu besprechen, Post vorzulesen und Post zu verfassen.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 1. Februar 2000
und des Widerspruchsbescheides vom 14. Juli 2000 zu verpflichten, den Kläger mit einem Lesesprechgerät zu versorgen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er nimmt auf den Inhalt der angegriffenen Bescheide Bezug.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.
Die Klage hat Erfolg.
Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig. Sie ist auch begründet, denn der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Versorgung mit einem Lesesprechgerät. Die ablehnenden Bescheide des Beklagten sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113
Abs. 5
VwGO).
Das Gericht legt seiner Entscheidung die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zugrunde. Zwar kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, in dem der Träger der Sozialhilfe den Hilfefall geregelt hat. Das ist regelmäßig der Zeitraum bis zur letzten Verwaltungsentscheidung, also bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides. Aus dieser zeitlichen Begrenzung des sozialhilferechtlichen Streitgegenstandes folgt, dass für die gerichtliche Überprüfung ablehnender Leistungsbescheide in der Regel die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich ist. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber dann, wenn die Behörde den Hilfefall statt für den dem Bescheid nächstliegenden Zeitraum für einen längeren Zeitraum geregelt hat.
Der die Bewilligung oder Ablehnung betreffende Regelungszeitraum braucht nicht ausdrücklich benannt zu sein, sondern kann sich aus dem maßgeblichen Bescheid auch durch Auslegung ergeben. Im Bereich der Eingliederungshilfe gelten die vorstehenden Grundsätze für eine mögliche zeitliche Erweiterung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle nicht nur für Bescheide des Sozialhilfeträgers, durch die "laufende" Leistungen für einen begrenzten, längeren Zeitraum abgelehnt werden. Sie sind vielmehr auch dann anzuwenden, wenn der Sozialhilfeträger die Kostenübernahme für ein Hilfsmittel (§ 40
Abs. 1
Nr. 2 BSHG) von längerer Gebrauchsdauer, das der Hilfesuchende für einen in die Zukunft hineinreichenden Bedarfszeitraum begehrt, für die Dauer dieses Zeitraums abgelehnt hat (
BVerwG, Urteil vom 31. August 1995 - 5 C 9.94 -, FEVS 46, 221).
So liegt der Fall hier. Bei dem Lesesprechgerät handelt es sich um ein Hilfsmittel von längerer Gebrauchsdauer, welches der Kläger für einen in die Zukunft hineinreichenden Bedarfszeitraum von unbestimmter Dauer beantragt hat. In diesem Sinne ist auch die ablehnende Entscheidung des Beklagten zu verstehen, zumal sie - jedenfalls im Kern - nicht auf zeitabhängige, der tatsächlichen Veränderung unterworfene Gründe gestützt worden ist. Zu dem hiernach maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung steht dem Kläger ein Anspruch auf Versorgung mit einem Lesesprechgerät als Maßnahme der Eingliederungshilfe zu.
Der Kläger gehört als Blinder zu dem in § 39
Abs. 1 Satz 1 BSHG genannten Personenkreis, so dass ihm grundsätzlich Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 40 BSHG zustehen. Leistungen der Eingliederungshilfe sind
u. a. die Versorgung mit Körperersatzstücken sowie mit orthopädischen und anderen Hilfsmitteln (§ 40
Abs. 1
Nr. 2 BSHG). Bei dem begehrten Lesesprechgerät handelt es sich um ein anderes Hilfsmittel
i. S. v. § 40
Abs. 1
Nr. 2
i. V. m. § 9
Abs. 1 der VO zu § 47 BSHG - EingliederungshilfeVO -.
Nach § 9
Abs. 3 EingliederungshilfeVO wird die Versorgung mit einem anderen Hilfsmittel nur gewährt, wenn "das Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich und geeignet ist", zu dem in Absatz 1 genannten Ausgleich (der durch die Behinderung bedingten Mängel) beizutragen.
Die Eignung eines Lesesprechgerätes zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mängel steht hier außer Frage. Das begehrte Hilfsmittel ist aber auch erforderlich. Insoweit kommt § 39
Abs. 3 BSHG bei der Auslegung von § 9
Abs. 3 EingliederungshilfeVO eine inhaltliche Leitfunktion zu. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es nach § 39
Abs. 3 Satz 1 BSHG
u. a., eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört nach § 39
Abs. 3 Satz 2 BSHG vor allem, dem Behinderten die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihm die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen und ihn so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.
Der Sinn und Zweck der Regelung liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darin, den Behinderten durch die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und durch Eingliederung in das Arbeitsleben nach Möglichkeit einem Nichtbehinderten gleichzustellen. Der Bedürftige soll die Hilfen finden, die es ihm ermöglichen, in der Umgebung von Nicht-Hilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben (
BVerwG, Urteil vom 20. Juli 2000, NVwZ 2001, 326).Nach diesen Maßstäben hält das Gericht die Versorgung des Klägers mit einem Lesesprechgerät unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles für erforderlich. Das Gerät dient dem - den Grundbedürfnissen zuzuordnenden - Informationsbedürfnis des Klägers, indem es ihn in die Lage setzt, ohne fremde Hilfe Druckschriften jeglichen Inhalts aufzunehmen. Zwar kann dem Informationsbedürfnis partiell auch durch Rundfunk und Hörbücher Rechnung getragen werden.
Ein gänzlicher Verzicht auf das Lesen von Druckschriften bewirkt aber nach allgemeiner Auffassung eine geistige Verarmung, weil zahlreiche Informationen nur gedruckt zur Verfügung stehen. Zudem sind gedruckte Texte jederzeit verfügbar, so dass das Lesesprechgerät dem Blinden die jederzeitige Auswahl zwischen den Büchern und gedruckten Texten, über die er verfügt, ermöglicht. Überdies erhält der Kläger mit dem Lesesprechgerät die Möglichkeit, die seinen privaten Lebensbereich betreffenden Druckschriften (private, geschäftliche und behördliche Schreiben, Kontoauszüge
etc.) ohne fremde Hilfe zur Kenntnis zu nehmen. Dass der Kläger keinen über das übliche Maß hinausgehenden Lesebedarf geltend macht, steht der Annahme der Erforderlichkeit der Versorgung mit dem Hilfsmittel nicht entgegen. Vielmehr genügt es, dass ein Informationsbedarf im Rahmen einer normalen Lebensführung auftritt (
vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 23. August 1995 -
3 RK 7/95 -, MDR 1996, 292; zum elektronischen Lesesprechgerät als Hilfsmittel der Krankenversicherung für Blinde).
Entgegen der Auffassung des Beklagten kann der Kläger hinsichtlich seines "Lesebedürfnisses" auch nicht auf die Hilfe Dritter verwiesen werden. Insofern kommt der besonderen persönlichen Lebenssituation des Klägers eine maßgebliche Bedeutung zu. Der Kläger, der erst im Alter von 44 Jahren als Folge eines Unfalls erblindet ist, lebt allein und hat keinerlei Unterstützung durch Familienangehörige. Gerade deshalb ist der Kläger auch in besonderem Maße auf Außenkontakte angewiesen, die durch das begehrte Hilfsmittel gefördert werden. Was die behördliche Korrespondenz angeht, mag der in dem ablehnenden Bescheid enthaltende Hinweis auf die Aufgaben des Betreuers durchaus sachgerecht gewesen sein. Dieses Argument trägt jedenfalls zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mehr, weil die Betreuung inzwischen aufgehoben worden ist und der Kläger somit keinen Betreuer mehr hat, der ihn bei der behördlichen Korrespondenz unterstützen könnte. Dem Kläger kann aber nach Auffassung des Gerichts auch nicht angesonnen werden, sein gesamtes Lesebedürfnis mit Hilfe fremder Vorlesekräfte zu befriedigen. Zwar ist es dem Kläger durchaus zuzumuten, einen Teil seines Blindengeldes für bezahlte Vorlesekräfte einzusetzen. Der generelle Verweis auf bezahlte Vorlesekräfte trägt jedoch der besonderen Lebenssituation des Klägers als allein stehender Person ohne Familienbindung nicht hinreichend Rechnung. Auch bliebe der grundgesetzlich garantierte Schutz der Privatsphäre außer Acht, wenn der Kläger im Bereich der persönlichen Angelegenheiten
(z. B. persönliche Briefe, Kontoauszüge) auf die Dienste fremder Personen verwiesen würde.
Ausgehend von dem Grundsatz, dass das Sozialhilferecht keinen Anspruch auf bestmögliche Versorgung vermittelt, sondern nur eine Grundversorgung im Rahmen der Zielvorstellungen des Bundessozialhilfegesetzes vorsieht, halten sich die - nur einmalig anfallenden - Kosten für das begehrte Lesesprechgerät auch in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit der Eingliederungshilfe verfolgten Zweck, dem Kläger die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu erleichtern, ihn so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen und ihn dadurch nach Möglichkeit einem Nichtbehinderten gleichzustellen.
Auf welche Weise der hiernach bestehende Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Lesesprechgerät zu erfüllen ist, liegt im Ermessen des Beklagten (§ 4
Abs. 2 BSHG). So steht dem Beklagten im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens unter Berücksichtigung des Wunschrechts des Klägers (§ 3
Abs. 2 BSHG) insbesondere die Entscheidung darüber frei, ob er dem Kläger die Mittel für den Kauf eines Lesesprechgerätes gewährt oder ob er ihm ein Gerät zu Eigentum oder leihweise überlässt.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154
Abs. 1, 188 Satz 2
VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167
VwGO i.V.m. §§ 708
Nr. 11, 711
ZPO.