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Jugdment
Krankenversicherung - kein Anspruch auf Braillezeile als zusätzliches Hilfsmittel zu einem Sprech-Lesegerät

Court:

LSG Mainz 5. Senat


File Number:

L 5 KR 117/04


Judgment of:

3 Mar 2005


Grundlage:

Leitsatz:

Eine Blinde, die mit einem Sprech-Lesegerät versorgt ist, hat keinen Anspruch auf zusätzliche Versorgung mit einer Braillezeile als Hilfsmittel, weil diese nach gegenwärtigem Kenntnisstand keine wesentlichen zusätzlichen Vorteile für die Befriedigung des allgemeinen Informationsbedürfnisses des behinderten Menschen bietet.

Legal Recourse:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Source:

JURIS-GmbH

Tatbestand:

Umstritten ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin mit einer Braillezeile zu versorgen.

Die 1967 geborene und bei der Beklagten versicherte Klägerin, die im November 2003 eine Ausbildung zur Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste an einer Spezialbibliothek begonnen hat, ist seit ihrem 13. Lebensjahr vollständig erblindet.
Mit Schreiben vom 19.3.2002 beantragte sie unter Bezugnahme auf eine Verordnung von Dr K bei der Beklagten die Übernahme der Kosten eines elektronischen Vorlesesystems sowie einer Braillezeile der Marke "Universal Reader Compact und Braillex Tiny" gemäß Kostenvoranschlag der Firma P GmbH bei Kosten von netto 4.330 Euro für das Vorlesesystem und 5.100 Euro für die Braillezeile.

Mit Bescheid vom 26.6.2002 bewilligte die Beklagte der Klägerin einen Zuschuss von 2.400 Euro für das Vorlesesystem, das dieser am 20.11.2002 ausgeliefert wurde. Durch weiteren Bescheid vom gleichen Tag lehnte die Beklagte eine Versorgung mit einer Braillezeile ab, da mit einer solchen das Maß des Notwendigen überschritten werde. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 2.10.2002 zurückgewiesen.

Am 29.10.2002 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie hat geltend gemacht, dass zur Erfüllung ihres privaten Informations- und Kommunikationsbedarfs die Ausstattung mit einer Braillezeile erforderlich sei. Es komme ihr darauf an, ihre private Post mit der Braillezeile selbst zu erledigen, insbesondere Kontoauszüge, Beipackzettel und Rechnungen zu lesen. Sie habe Englisch studiert und interessiere sich deshalb auch für englischsprachige Literatur, die mit dem Vorlesesystem allein nicht nutzbar sei.

Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten nach Aktenlage von Dipl-Psych S von der Deutschen Blindenstudienanstalt eV M vom September 2003 erstatten lassen. Dieser hat die nach seiner Ansicht bestehenden Vorteile einer Braillezeile gegenüber einem Vorlesesystem im Einzelnen dargestellt. Die Firma P hat dem SG das aktualisierte Angebot übersandt.

Durch Urteil vom 25.5.2004 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Klägerin die Braillezeile "Braillex EL 40s" einschließlich der Braillesteuerung "Jaws" zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Gewährung der Braillezeile als Hilfsmittel nach § 33 Abs 1 Satz 1 des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB V) seien erfüllt.
Diese befriedige das Grundbedürfnis der Klägerin auf (umfassende) Information. Deren Informationsbedürfnis sei in einem umfassenden Sinne Rechnung zu tragen, sodass die bloße Verweisung auf Rundfunk und Audiotheken nicht zulässig sei. Zu einem selbstbestimmten Leben gehöre auch die Information im persönlichen Lebensbereich auf einfachster Stufe. Dabei gehe es ua um Zeitungslektüre und die Kenntnisnahme von Telefonnummern, Telefonrechnungen, Arzneibeipackzetteln, Formularen usw (Hinweis auf BSG, 16.4.1998, B 3 KR 6/97 R, SozR 3-2500 § 33 Nr 26). Mit dem vorhandenen Vorlesesystem werde diesem Informationsbedürfnis nicht hinreichend Rechnung getragen, wie aus dem eingeholten Gutachten hervorgehe. Wie der Sachverständige dargelegt habe, seien die Probleme der Spaltenerkennung und -interpretation (zB hinsichtlich Inhaltsverzeichnissen, Texten mit Marginalien und Tabellen) durch ein Vorlesesystem bisher nicht gelöst. Auch Schriftgut mit Zahlen, Abkürzungen, Bildern und Fachbegriffen könne nur mit einer Braillezeile in sinnvoller Weise erkannt werden. Das Vorlesesystem "Universal Reader Compact" vermöge einzelne fremdsprachige Wörter nicht zu erkennen. Von der Beklagten sei nicht geltend gemacht worden, dass das der Klägerin zur Verfügung gestellte Vorlesesystem so ausgereift und technisch vervollkommnet sei, dass Schwächen ganz oder nahezu vollständig beseitigt und eine Braillezeile insoweit überflüssig geworden sei (Hinweis auf BSG, 21.11.2002, B 3 KR 4/02 R). Insbesondere habe diese nicht vorgetragen, dass der Sachverständige nicht den aktuellen technischen Stand der Vorlesegeräte berücksichtigt habe bzw dass seit Oktober 2003 technische Verbesserungen bei Vorlesesystemen eingetreten seien und die Klägerin mit einem solchen neuartigen Gerät ausgestattet sei. Die Kammer erachte daher die Vernehmung des von der Beklagten zum Termin zur mündlichen Verhandlung mitgebrachten Stefan D (Hersteller von Blindenlesegeräten) für entbehrlich.

Gegen dieses ihr am 26.7.2004 zugestellte Urteil richtet sich die am 10.8.2004 beim Landessozialgericht Rheinland-Pfalz eingelegte Berufung der Beklagten.

In dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 3.2.2005 hat der Medizinprodukteberater bei der Firma D GmbH M ein mitgebrachtes Vorlesesystem vorgeführt und als Zeuge ua ausgesagt, soweit die Sprachwiedergabe Fehler enthalte oder schwer verständlich sei, träten diese Fehler auch bei einer Ausgabe mit der Braillezeile auf. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 3.3.2005 hat der Sachverständige S vorgegebene Texte (Tabellen uÄ) mit Hilfe einer Braillezeile vorgelesen; der Zeuge M hat dieselben Texte mit dem Vorlesesystem vorgeführt.

Die Beklagte trägt vor: Hilfsmittel, die dazu dienten, lediglich die Folgen und Auswirkungen der Behinderung in den verschiedenen Lebensbereichen, insbesondere auf beruflichem und wirtschaftlichem Gebiet sowie im Bereich der Freizeitgestaltung, zu beseitigen oder zu mildern, müsse der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zur Verfügung zu stellen. Die streitgegenständliche Braillezeile sei nicht zur Versorgung im Rahmen eines Grundbedürfnisses erforderlich und damit auch nicht iSd § 12 Abs 1 SGB V notwendig. Durch das vorhandene Vorlesesystem sei die Klägerin ausreichend versorgt. In diesem sei ua eine sog Zeitungsvorlesefunktion integriert. Das "Lesen" an sich stelle kein elementares Grundbedürfnis dar, das die gesetzliche Krankenversicherung sicherzustellen habe.


Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Speyer vom 25.5.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.


Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die nach §§ 143 f, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist begründet. Entgegen der angefochtenen Entscheidung des SG hat die Klägerin keinen Anspruch auf Versorgung mit einer Braillezeile.

Wie das BSG entschieden hat (16.4.1998, B 3 KR 6/97 R, SozR 3-2500 § 33 Nr 26; 21.11.2002, B 3 KR 4/02 R), ist eine Braillezeile von den Krankenkassen als Behinderungsausgleich grundsätzlich allen blinden Versicherten zur Verfügung zu stellen, die über einen häuslichen PC nebst Lese-Sprech-Gerät verfügen und diesen selbst bedienen können, wenn sie zur Befriedigung ihres allgemeinen Grundbedürfnisses auf Information Schriftstücke und Texte mit Hilfe der Braillezeile "lesen" möchten, die von einem Lese-Sprech-Gerät nicht, unzulänglich oder nur mit unzumutbarem Aufwand erfasst und in verständliche Sprache umgesetzt werden können. Das Lesen der Tageszeitung ist elementarer Bestandteil des allgemeinen Grundbedürfnisses "Information"; aber auch das selbstständige Erfassen von alltäglichen Schriftstücken wie Rechnungen, Kontoauszügen oder Prospekten gehört zu den Voraussetzungen, um sich im heutigen Leben zurecht finden zu können (BSG, 21.11.2002, aaO). Dem BSG zufolge (aaO) kann ein Versorgungsanspruch nur dann abgelehnt werden, wenn 1) ein im Umgang mit einem PC vertrauter Versicherter Schriftstücke und Texte der genannten Art auf Grund seiner persönlichen Lebenseinstellung und Bedürfnisse nicht oder nur in sehr geringem Umfang "lesen" möchte, was bei der Klägerin nicht der Fall ist oder wenn 2) auf Grund des zwischenzeitlich eingetretenen technischen Fortschritts die heutzutage auf dem Markt befindlichen Lese-Sprech-Geräte, insbesondere das der Klägerin zur Verfügung stehende Gerät, so ausgereift und technisch vervollkommnet sind, dass die früher (vgl BSG, 16.4.1998 und 21.11.2002, aaO) noch zu verzeichnenden Schwächen ganz oder nahezu vollständig beseitigt worden und dadurch Braillezeilen insoweit überflüssig geworden sind.

Der Senat hat in seinem Urteil vom 26.8.2004 (L 5 KR 59/04) entschieden, dass die Braillezeile im Verhältnis zum Sprech- Lesegerät keine wesentlichen Vorteile bietet. Dies haben die eingehenden Ermittlungen des Senats im vorliegenden Verfahren bestätigt. Der Senat gründet seine Überzeugung auf die Vorführungen des Sprech-Lesegeräts und der Braillezeile am 3.2. und 3.3.2005 sowie die Angaben des Zeugen M. Bei einem Vergleich beider Geräte zeigte sich, dass ein Vorteil der Braillezeile gegenüber dem Sprech-Lesegerät nicht zu verifizieren war; dies entspricht auch den Darlegungen des Zeugen M. Bei der Braillezeile bestehen ähnliche und nicht geringere Schwierigkeiten als bei dem Sprech-Lesegerät, komplizierte Texte, zB Tabellen, Rechnungen, Kontoauszüge oÄ, zu erfassen, was auf dem Erkennen der Texte, nicht aber auf der Wiedergabe beruht. Durch diese Erkenntnisse aus eigener Anschauung des Senats ist die Auffassung des Sachverständigen S in dessen schriftlichem Gutachten widerlegt. Dies schließt es nicht aus, dass Braillezeilen zukünftig so vervollkommnet werden, dass die Sachlage anders zu beurteilen sein wird. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand vermag der Senat jedoch die Notwendigkeit einer Braillezeile, zusätzlich zu dem Sprech-Lesegerät, nicht zu bejahen.

Ob die Braillezeile fremdsprachige Literatur zu "lesen" vermag, brauchte nicht geprüft zu werden, da solche Lesevorgänge nicht zur Versorgung des Grundbedürfnisses auf Information erforderlich sind. Dass die Braillezeile hinsichtlich des Lesens von Tageszeitungen wesentliche zusätzliche Möglichkeiten einräumt, ist nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.

Reference Number:

KSRE079621717


Last Update: 9 Sep 2005