Urteil
Addition der Einzel-MdE bei beantragtem Unfallausgleich wegen eines Dienstunfalls

Gericht:

OVG Berlin-Brandenburg 4. Senat


Aktenzeichen:

OVG 4 B 32.10 | 4 B 32.10


Urteil vom:

19.01.2011


Grundlage:

  • BeamtVG § 31 Abs 1 |
  • BeamtVG § 35 Abs 1 S 2 |
  • BeamtVG § 35 Abs 2 S 1 |
  • BVG § 31 Abs 1 |
  • BVG § 31 Abs 2

Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten wird das im Wege schriftlicher Entscheidung ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 12. März 2009 geändert.

Die Klage wird insgesamt abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 v.H. des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Unfallausgleich.

Der am 12. November 1... geborene Kläger stand bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand mit Ablauf des 30. November 2009 zuletzt als Oberamtsrat (Leiter des Standesamtes) im Dienst des Beklagten.

Am 2. April 2004 stürzte der Kläger auf dem Weg vom Dienstgebäude zu seinem in der Nähe abgestellten Kraftfahrzeug über eine schadhafte Gehwegplatte. Hierdurch zog er sich u.a. Verletzungen im Gesicht und an der rechten Hand zu. Dieses Schadensereignis erkannte das Bezirksamt M... mit Bescheid vom 2. Juli 2004 (im Verwaltungsvorgang: 14. Juni 2004) als Dienstunfall nach § 31 Abs. 2 BeamtVG an. Als Verletzungen wurden im Bescheid eine Nasenbeinfraktur sowie eine Fraktur der Finger der rechten Hand (Achsen- und Rotationsfehlstellung der 4. und 5. Phalanx medialis, Basisimpressionsfraktur rechts mit Bewegungsunfähigkeit) festgestellt.

Zur Prüfung, ob beim Kläger als Folge des Dienstunfalles eine Minderung der Erwerbsfähigkeit eingetreten ist, holte der Amtsärztliche Untersuchungs- und Vertrauensärztliche Dienst des Bezirksamtes M... eine ärztliche Stellungnahmen von der Fachärztin für Sportmedizin, Ärztin für Chirotherapie und Sozialmedizin Dr. W... ein. Unter dem 23. Februar 2005 führte diese in ihrem Gutachten zusammenfassend aus, dass im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates an den Fingern III und IV der rechten Hand (Rechtshänder) Achsenabweichungen, Rotationsfehlstellungen und fast versteifungsartige Bewegungseinschränkungen in den Mittel- und Endgliedbereichen bestünden. Der Faustschluß und damit die Greif- und Haltefähigkeit sei deutlich eingeschränkt. Die Finger könnten keinen Umfassungsgriff durchführen und seien störend. Die Schreibfähigkeit mit Hilfe eines Stiftes sei eingeschränkt. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 30.

In der weiter eingeholten ärztlichen Stellungnahme des Facharztes für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Dr. med. H... vom 14. September 2005 führte dieser zusammenfassend aus, dass die Verletzung der Nase gutachtlich aus zwei Komponenten bestehe. Die Verletzungen hätten zum einen einen kosmetischen Aspekt, da sie zu einer deutlichen Formveränderung der knorpeligen Nase im Sinne einer sog. "Papageiennase" mit deutlich nach Abwärts gebogener und verkürzter Profillinie im Nasenspitzenbereich geführt hätten und zum anderen einen funktionellen Aspekt, der in einer Nasenatmungsbehinderung bestünde. Zusammenfassend sei unter dem kosmetischen Aspekt von einer "einfachen Entstellung" des Gesichts auszugehen; er schlage daher eine MdE von mindestens 10 % vor. Hinsichtlich der funktionellen Störung sei zu berücksichtigen, dass eine Vorschädigung durch beiderseitige Operation der Kieferhöhlen in den 70er Jahren bestehe; daher werde für diesen Bereich eine MdE von 10 % vorgeschlagen. Abschließend heißt es in der ärztlichen Stellungnahme, dass aus HNO-ärztlicher Sicht eine MdE von insgesamt 20 % vorgeschlagen werden müsse.

Der Amtsärztliche Untersuchungs- und Vertrauensärztliche Dienst des Bezirksamtes M... teilte dem Bezirksamt M... daraufhin mit Schreiben vom 28. Oktober 2005 als Ergebnis der amtsärztlichen Untersuchung des Klägers mit, dass die Folgen des Dienstunfalles vom 2. April 2004 erwerbsmindernd seien; die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage 30 v.H.

Aufgrund von Zweifeln an der Schlüssigkeit des Ergebnisses des Amtsärztlichen Untersuchungs- und Vertrauensärztliche Dienstes holte das Bezirksamt M... zusätzlich ein Gutachten des Arztes für Orthopädie Dr. K... ein. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 4. Juli 2006 u.a. Folgendes fest: Seit dem Unfall bestehe eine Morgensteifigkeit der Handgelenke und der Fingergelenke sowie eine Schwellung mit eingeschränkter Beweglichkeit der Fingergelenke 3 und 4. Schmerzen träten bei Belastung auf und es bestehe eine Kraftminderung der rechten Hand. Bei der Untersuchung des Klägers sei eine geringe Einschränkung der rechten Handgelenksfunktion im Vergleich zu links festgestellt worden. Zudem sei eine mäßige Verdickung der Finger 3 und 4 aufgefallen. Streckseitig fänden sich reizlose fünf 6 cm lange Narben. Das Endglied des 4. Fingers zeige eine Achsenfehlform im Sinne einer Abweichung von 15 Grad nach radial. Die Fingergrundgelenke seien bis auf eine Beugebehinderung des 2. Fingers von 25 Grad nur minimal funktionell behindert. Die Fingermittelgelenke 3 und 4 zeigten eine deutliche Einschränkung der Beugefähigkeit. Der 3. Finger könne nur bis 30 Grad und der 4. Finger nur bis 55 Grad gebeugt werden. Die Fingerendgelenke 2 bis 5 seien in ihrer Beugefähigkeit deutlich behindert - am stärksten das Endgelenk des 4. Fingers, das wackelsteif bei ca. 15 Grad gewesen sei. Die Opposition des Daumens sei ungehindert. Der Spitzgriff sei möglich. Bewegungsschmerzen oder Druckschmerzen im Bereich des Handgelenkes, der Hohlhand oder der Fingergelenke seien nicht angegeben worden. Die Handfunktionen hätten rechts nur knapp ausreichend, links kräftig reproduziert werden können. Der Faustschluss sei unvollständig mit einem Fingerkuppen-Hohlhandabstand von - 2 cm im Bereich des 2. und 3. Fingers sowie von - 1 cm im Bereich des 4. Fingers. Gefühlsstörungen im Sinne einer Berührungsminderempfindlichkeit seien streckseitig im Bereich der Finger 3 und 4 und beugeseitig im Bereich des Fingermittelgelenkes 4 angegeben worden. Es bestehe eine trophische Störung im Bereich des Endgliedes des 4. Fingers. Die vergleichende Umfangmessung habe eine Minderung des Muskelmantels der oberen Extremitäten zu Ungunsten rechts ergeben, wie nach länger andauernder Minderbelastbarkeit zu erwarten gewesen sei. Bei einem rechtshändigen Menschen sei ein 1 cm stärkerer Muskelmantel rechts zu erwarten, so dass insgesamt gesehen von einer Minderung der Muskelmasse um ca. 1,5 cm auszugehen sei. Die übrigen unfallbedingten Verletzungen (rechte Hand) seien folgenlos verheilt. Die röntgenologische Untersuchung der rechten Hand habe in mäßiger Fehlstellung knöchern tragfähig verheilte Frakturen ergeben. In der epikritischen Zusammenfassung und Beurteilung bewertete der Gutachter Dr. E... die Minderung der Erwerbsfähigkeit bezogen auf die Verletzungsfolgen der rechten Hand mit 20 v.H.; dies trage den Verletzungsfolgen der rechten Hand ausreichend Rechnung. Zu dem vorliegenden HNO-ärztlichen Gutachten könne fachlich nicht Stellung genommen werden, es sei jedoch festzustellen, dass die Gesamteinschätzung der MdE auf dem HNO-ärztlichen Gebiet durch das Addieren zweier Schädigungsfolgen von 10 v.H. zustande komme. Dies sei nicht zulässig, da beide Schädigungsfolgen nebeneinander stünden und keine gegenseitige Verstärkung bedingten. Für den HNO-ärztlichen Bereich dürfe daher nur eine MdE von 10 v.H. anerkannt werden. Die Bildung einer Gesamt-MdE bei mehreren Schädigungsfolgen erfolge ebenfalls nicht durch Addition. Sofern die Schädigungsfolgen unabhängig nebeneinander stünden und eine gegenseitige negative Beeinflussung auszuschließen sei, komme nur der höchste Satz der Einzel-MdE in Ansatz. Die Gesamt-MdE der Schädigungsfolgen sei also mit 20 v.H. anzusetzen.

Dem folgend stellte das Bezirksamt M... mit Bescheid vom 28. August 2006 fest, dass die Gesamt-MdE der Schädigungsfolgen aufgrund des Dienstunfalls 20 v.H. betrage.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies das Bezirksamt M... mit Widerspruchsbescheid vom 3. November 2006 (zugestellt am 20. November 2006) zurück.

Der Kläger hat hiergegen am 14. Dezember 2006 Klage erhoben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Beklagte sei ohne jegliche ärztliche Fachkompetenz von den ärztlichen Stellungnahmen der Gutachter Dr. W... und Dr. L... abgewichen und habe selbst eine MdE nur auf der Grundlage eines orthopädischen Gutachtens des Dr. E... festgesetzt. Eine Auseinandersetzung mit den ärztlichen Stellungnahmen von Frau Dr. W... und Herrn Dr. L... fehle. Zudem habe der Beklagte nicht berücksichtigt, dass Herr Dr. L... insgesamt eine MdE von 20 v.H. vorgeschlagen habe. Daher sei der Beklagte bei der Festsetzung der Gesamt-MdE zu Unrecht lediglich von einer MdE von 10 v.H. für den HNO-Bereich ausgegangen.

Das Verwaltungsgericht Berlin hat durch das im Wege schriftlicher Entscheidung ergangene Urteil vom 12. März 2009 den Beklagten unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verpflichtet, dem Kläger ab 2. Oktober 2004 Unfallausgleich gemäß § 35 BeamtVG auf der Grundlage eine MdE von 30 v.H. zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

Abweichend vom angegriffenen Bescheid stehe dem Kläger Unfallausgleich in dem von ihm begehrten zeitlichen Umfang ab 2. Oktober 2004 auf der Grundlage einer MdE von 30 v.H. zu. Die Bewertung des Grades der MdE sei gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen. Im Interesse einheitlicher Maßstäbe für die Bestimmung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit sei als Orientierungsmaßstab auf die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht - Teil 2 SGB IX" zurückzugreifen. Bei der Bildung eines Gesamtgrades der Behinderung sei zu prüfen, welche Auswirkungen die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehung zueinander hätten. Es sei zunächst von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Wert bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und wie weit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer werde. Die stärkste Funktionseinschränkung betreffe die Funktion der rechten Hand; diese sei vom Gutachter Dr. E... mit 20 v.H. bewertet worden. Die auf das Gesicht einerseits und die Funktion der Nase (Atmung) andererseits bezogenen Einschränkungen beträfen andere auch im Erwerbsleben bedeutsame Funktionen, die neben die Funktionseinschränkung der Hand träten und auch das Maß der Erwerbsmöglichkeiten zusätzlich einschränkten, d.h. die MdE erhöhten. Es sei daher nicht schlüssig, dass, wenn sogar mehrere zusätzlich die Erwerbsmöglichkeit einschränkende Funktionseinbußen feststellbar seien, der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht zu erhöhen sei, wie dies von Dr. E... vertreten werde. Insgesamt erscheine daher eine Gesamt-MdE von 30 v.H. angemessen. Für eine daneben sinngemäß begehrte Feststellung des Grades der MdE bestehe dagegen kein Rechtsschutzbedürfnis.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Beklagte mit der vom Senat durch Beschluss vom 29. September 2010 zugelassenen Berufung, zu deren Begründung er im Wesentlichen geltend macht: Das Verwaltungsgericht habe die Regelung in Teil A Nr. 19 Abs. 4 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht - Teil 2 SGB IX - 2008" bzw. der diese ab dem 1. Januar 2009 ersetzenden Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (Teil A Nr. 3 der Anlage zu § 2) nicht berücksichtigt, indem es eine unzulässige Erhöhung der höchsten Einzel-MdE von 20 v.H. auf 30 v.H. vorgenommen habe. Der Beklagte sei auch nicht an die Bewertungen der Gutachter gebunden. Diese machten nur Vorschläge. Für die Bemessung und Festsetzung des Grades der MdE auf der Grundlage der Feststellungen der Gutachter bedürfe es auch keiner medizinischen Fachkenntnisse. Nach den "Anhaltspunkten" und der Versorgungsmedizin-Verordnung sei bei einem Verlust von zwei Fingern (ohne Daumen) eine MdE von 25 v.H. und bei einem Verlust von drei Fingern eine MdE von 30 v.H. anzunehmen. Daher sei der Ansatz einer MdE von 20 v.H. zwar hoch, aber noch angemessen. Die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen (Nase) seien für den kosmetischen Bereich mit einer MdE von 10 v.H. und für den funktionellen Bereich mit einer MdE von ebenfalls 10 v.H. vorgeschlagen worden, was nach Nr. 19 Abs. 1 und Abs. 3 der "Anhaltspunkte" aber nicht addiert werden dürfe und nach Nr. 19 Abs. 4 der "Anhaltspunkte" als geringe Funktionsbeeinträchtigung mit einer MdE von 10 v.H. nicht zu berücksichtigen sei. Lediglich in Ausnahmefällen sei eine Erhöhung der höchsten MdE vorzunehmen. Ein solcher Ausnahmefall liege hier nicht vor.

Der Beklagte beantragt,

das im Wege schriftlicher Entscheidung ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 12. März 2009 teilweise zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und macht geltend: Das Verwaltungsgericht sei im vorliegenden Fall zu Recht von einem Ausnahmefall im Sinne von Nr. 19 Abs. 4 der "Anhaltspunkte" ausgegangen. Die Funktionsbeeinträchtigungen im HNO-Bereich stellten eine zusätzliche Einschränkung zur Funktionsbeeinträchtigung der Hand dar, die das Maß der Erwerbsmöglichkeit weiter beschränkten. Für den HNO-Bereich sei der Gutachter zu einer MdE von 20 v.H. gelangt, die hier in Ansatz zu bringen sei. Die Annahme, dass die Funktionsbeeinträchtigungen im HNO-Bereich nur mit einer MdE von 10 v.H. zu bewerten seien, sei unrichtig. Die Regelung des Nr. 19 Abs. 4 der "Anhaltspunkte" betreffe Fälle mit einer hohen Einzel-MdE (50 v.H.), die dann nicht bei einer weiteren geringeren Funktionsbeeinträchtigung (20 v.H.) erhöht werden solle; bei mehreren eher geringen Funktionsbeeinträchtigungen gelte das Erhöhungsverbot aber nicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Streitakte, die über den Kläger geführten Personalakten (zwei Bände) und den Dienstunfallvorgang (ein Band) Bezug genommen, die vorgelegen haben und - soweit wesentlich - Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Unfallausgleich, weil die anerkannten Verletzungsfolgen des Dienstunfalls vom 2. April 2004 keine MdE von mindestens 30 v.H. bedingen.

Nach § 35 Abs. 1 BeamtVG erhält der Beamte, der infolge eines Dienstunfalls in seiner Erwerbsfähigkeit länger als sechs Monate wesentlich beschränkt ist, solange dieser Zustand andauert, einen Unfallausgleich. Wesentlich bedeutet, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 25 v.H. beträgt. Dies folgt aus der Verweisung in § 35 Abs. 1 Satz 2 BeamtVG auf § 31 Abs. 1 und 2 BVG der beim Erlass des Widerspruchsbescheides am 3. November 2006 geltenden Fassung (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1965 - VI C 38.63 - BVerwGE 21, 282, 283 f.). Daran ist auch nach der zum 21. Dezember 2007 in Kraft getretenen Neufassung des § 31 BVG (BGBl. I S. 2904) festzuhalten. Der Regelungsgehalt des § 31 Abs. 2 BVG a.F., nach dem eine bis zu 5 v.H. geringere Minderung der Erwerbsfähigkeit vom höheren Zehnergrad mit umfasst ist, ist in § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG aufgenommen worden. Zwar verweist § 35 BeamtVG nicht auf § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG, aber über den Verweis auf § 31 Abs. 1 BVG, der aufgrund von § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG auch einen Grad der Schädigungsfolgen von 25 v.H. erfasst, behält diese Regelung zugleich auch ihre Bedeutung für den Begriff der wesentlichen Beschränkung der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 35 BeamtVG (vgl. Groepper/ Tegethoff in Plog/Wiedow, Kommentar zum Bundesbeamtengesetz, BeamtVG § 35 Rn. 6; OVG Bremen, Urteil vom 29. Oktober 2008 - 2 A 38.05 - juris Rn. 53).

Nach § 35 Abs. 2 Satz 1 ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen. Erwerbsfähigkeit ist die Kompetenz des Verletzten, sich unter Nutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm abstrakt im gesamten Bereich des Erwerbslebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Auf den bisherigen Beruf oder die bisherige Tätigkeit wird dabei nicht abgestellt (vgl. Groepper/Tegethoff in Plog/Wiedow, a.a.O. § 35 Rn. 5). Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage bei Abschluss des Verwaltungsverfahrens (vgl. OVG Bremen, a.a.O. Rn. 55 m.w.N.).

Der Unfall des Klägers am 2. April 2004 ist vom Beklagten mit Bescheid vom 2. Juli 2004 bzw. 14. Juni 2004 als Dienstunfall im Sinne des § 31 Abs. 1 BeamtVG anerkannt worden. Eine wesentliche Beschränkung der Erwerbsfähigkeit des Klägers mit einer MdE von mindestens 30 v.H. kann der Senat nicht erkennen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sieht der Senat vielmehr die Feststellung einer dienstunfallbedingten MdE von 20 v.H. durch den Beklagten unter Berücksichtigung der amtsärztlichen und fachärztlichen Stellungnahmen im Verwaltungsverfahren als zutreffend an. Bei der Feststellung der nach dem Beamtenversorgungsrecht maßgebenden MdE sind die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" (im Folgenden: AHP) zu berücksichtigen, hier in der maßgeblichen Fassung von 2005 (inhaltsgleich mit der Fassung 2008 und der ab 1. Januar 2009 geltenden Versorgungsmedizin-Verordnung). Bei den AHP handelt es sich um antizipierte Sachverständigengutachten, deren Beachtlichkeit im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sich daraus ergibt, dass eine dem allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende Rechtsanwendung nur dann gewährleistet ist, wenn die verschiedenen Behinderungen nach gleichen Maßstäben beurteilt werden; die AHP stellen insoweit ein geeignetes, auf Erfahrungswerten der Versorgungsverwaltung und Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft beruhendes Beurteilungsgefüge zur Einschätzung der GdB/MdE dar (vgl. OVG Bremen, a.a.O. Rn. 66 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R. - BSGE 91, 205 ff.). Dabei ist jedoch zu beachten, dass der im sozialen Entschädigungsrecht maßgebliche Grad der Behinderung auch Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf andere Bereiche als das Erwerbsleben berücksichtigt und eine ursachenunabhängige - nicht dienstunfallabhängige - Betrachtung erfordert. Daher sind die im Verfahren nach dem Schwerbehindertengesetz bzw. nach dem 9. Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) getroffenen Feststellungen des Versorgungsamtes nicht bindend für das Verfahren wegen Unfallausgleich nach dem Beamtenversorgungsgesetz (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 2000 - 2 C 27.99 - BVerwGE 112, 92, 97 f.).

Nach Teil A Nr. 18 Abs. 4 AHP sind die Schädigungsfolgen für jeweils ein Funktionssystem zusammenfassend zu beurteilen; soweit verschiedene Funktionssysteme - wie hier - beeinträchtigt sind, sind nach Teil A Nr. 19 Abs. 1-3 AHP jeweils Einzel-MdE-Grade und dann ein Gesamt-MdE-Grad anzugeben, wobei die einzelnen Werte nicht addiert werden dürfen. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Bei der Gesamtwürdigung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen sind dabei Vergleiche mit den Gesundheitsschäden anzustellen, zu denen in der Tabelle feste GdB/MdE-Werte angegeben sind. Das bedeutet, dass ein Gesamt-MdE-Grad von 50 beispielsweise nur angenommen werden kann, wenn die Gesamtauswirkung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen so erheblich ist wie beim Verlust einer Hand oder eines Beines im Unterschenkel. Bei der Beurteilung des Gesamt-MdE-Grades ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-MdE-Grad bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten MdE-Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (Teil A Nr. 19 Abs. 3 AHP).

Die Funktionsbeeinträchtigung, die vorliegend den höchsten Einzel-MdE-Grad bedingt, betrifft die Funktion der rechten Hand des Klägers. Diese ist vom Gutachter Dr. E... im Ergebnis nachvollziehbar und überzeugend mit einer Einzel-MdE von 20 v.H. bewertet worden. Die Bewertung mit einer Einzel-MdE von 30 v.H. durch die Gutachterin Dr. W... erscheint demgegenüber unter Berücksichtigung der in der GdB/MdE Tabelle in Teil A Nr. 26.18 AHP (S. 121) angegebenen Werte als unschlüssig. Denn hiernach wird der Verlust von einem Finger (nicht Daumen) mit einer MdE von 10 v.H., der Verlust von zwei Fingern mit einer MdE von 25 bis 30 v.H. und der Verlust von drei Fingern mit einer MdE von 30 bis 40 v.H. bewertet. Die beim Kläger vorliegenden Funktionseinschränkungen der Finger der rechten Hand stellen zwar deutliche Einschränkungen dar, aufgrund der vorhandenen Restfunktion der Finger erscheint jedoch eine Bewertung unterhalb der Funktionseinschränkung, die bei Verlust mehrerer Finger vorläge, notwendig. Hiervon ist auch das Verwaltungsgericht ausgegangen. Der Kläger zieht diese Bewertung ebenfalls nicht in Zweifel.

Die weiteren Funktionseinschränkungen kosmetischer und funktioneller Art die Nase betreffend, die vom Gutachter Dr. L... mit einer MdE von 10 v.H. für den kosmetischen Bereich und ebenfalls mit einer MdE von 10 v.H. für die funktionelle Störung bewertet worden sind, rechtfertigen entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts keine Erhöhung des Gesamt-MdE-Grades. Nach Teil A Nr. 19 Abs. 4 AHP führen von Ausnahmefällen (z.B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB/MdE-Grad von 10 v.H. bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, und zwar auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB/MdE-Grad von 20 v.H. ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Die vom Gutachter Dr. L... festgestellten Beeinträchtigungen stellen solche leichten Gesundheitsstörungen dar. Sie sind jeweils (unstreitig) nur mit einem MdE-Grad von 10 v.H. bewertet worden und erhöhen den Gesamt-MdE-Grad von 20 v.H. nicht. Für das Vorliegen eines in Teil A Nr. 19 Abs. 4 AHP genannten Ausnahmefalles ist nichts erkennbar. Auch das Verwaltungsgericht hat einen solchen Ausnahmefall nicht begründet. Es weist zwar zu Recht darauf hin, dass die Beeinträchtigungen die Nase betreffend neben die Funktionseinschränkung der rechten Hand treten und es auch zu einer zusätzlichen Einschränkung des Maßes der Erwerbsmöglichkeit für den Kläger kommen kann. Es übersieht jedoch bei seiner rechtlichen Beurteilung das (relative) Erhöhungsverbot in Teil A Nr. 19 Abs. 4 AHP, jedenfalls setzt es sich nicht mit ihm auseinander. Hintergrund des Erhöhungsverbotes ist, dass Auswirkungen einer nur mit einer Einzel-MdE von 10 v.H. bewerteten Funktionsstörung die Gesamt-MdE in aller Regel deshalb nicht zu erhöhen vermögen, weil sie zu geringfügig sind. Die AHP drücken dies durch die Formulierungen "leichte Gesundheitsstörungen" und "wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung" aus. Das Erhöhungsverbot in Teil A Nr. 19 Abs. 4 AHP gilt dabei nicht nur in Fällen, in denen verschiedene Funktionsbeeinträchtigungen in einem Lebensbereich betroffen sind, sondern auch dann, wenn die Funktionsbeeinträchtigungen verschiedene Lebensbereiche erfassen. Eine Erhöhung des Gesamt-MdE-Grades wegen eines zusätzlichen Einzel-MdE-Grades von 10 v.H. und damit ein Ausnahmefall im Sinne der AHP kommt nur dann in Betracht, wenn sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt, wie dies der in den AHP angeführte Fall hochgradiger Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit verdeutlicht (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 2000 - B 9 V 8/00 R - juris, Rn. 16). Für eine solche vergleichbar nachteilige Auswirkung ist vorliegend nichts ersichtlich. Die Beeinträchtigungen an der Nase stehen vielmehr selbständig als zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen neben der Funktionsbeeinträchtigung der rechten Hand.

Soweit der Kläger geltend macht, der Gutachter Dr. L... habe für den HNO-Bereich eine MdE von 20 v.H. angenommen, verkennt er, dass eine Addition der Einzel-MdE-Grade nach Teil A Nr. 19 Abs. 1 AHP nicht vorzunehmen ist. Zudem wäre selbst dann, wenn man die Funktionsbeeinträchtigungen im HNO-Bereich mit einem MdE-Grad von 20 v.H. bewertete, eine Erhöhung des Gesamt-MdE-Grades von 20 v.H. auf mindestens 30 v.H. nicht gerechtfertigt. Denn es fehlt an Anhaltspunkten, die auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung im Sinne einer besonders nachteiligen Auswirkung auf die Funktionsbeeinträchtigungen an der rechten Hand schließen lassen (vgl. Teil A Nr. 19 Abs. 4 Satz 2 AHP). Weder die eingeschränkte Atmungsfunktion der Nase noch die "einfache Entstellung" stehen in einem funktionalen sich gegenseitig bedingenden Zusammenhang zur Funktionseinschränkung der Finger der rechten Hand.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO, § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO, § 127 BRRG liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R4841


Informationsstand: 07.04.2011