Urteil
Blinde haben Anspruch auf Versorgung mit einem Laser-Langstock

Gericht:

SG Koblenz 11. Kammer


Aktenzeichen:

S 11 SO 62/15


Urteil vom:

15.03.2017


Pressemitteilung:

(vom 23.06.2017)

Blinde Versicherte können bei entsprechender ärztlicher Verordnung im Rahmen der Hilfsmittelversorgung einen Laser-Langstock an Stelle eines einfachen Blindenstocks verlangen.

Die gesetzlich krankenversicherte Klägerin war als Erwachsene infolge einer Krankheit erblindet. Nach einer Umschulung hatte sie eine Beschäftigung als Masseurin gefunden. Mit Hilfe ihres Blindenstocks ist sie in der Lage, mit öffentlichen Verkehrsmitteln ihre Arbeitsstelle zu erreichen und sich selbständig zu versorgen. Die Krankenkasse übernahm die Kosten für den einfachen Blindenstock und die notwendigen Schulungen dafür. Als die Versicherte die Versorgung mit einem Laser-Langstock beantragte, wurde dies abgelehnt. Der einfache Blindenstock sei als Hilfsmittel ausreichend. Dem hielt die Versicherte entgegen, dass der beantragte Laser-Langstock nicht mit einem herkömmlichen Blindenstock vergleichbar sei. Mit dem einfachen Blindenstock könne sie nur Hindernisse wahrnehmen, die sich in unmittelbarer Boden­nähe befinden. Hindernisse, die oberhalb der Hüfte in den Weg ragten (wie z. B. auf Bauch- oder Kopfhöhe herabgelas­sene Hebebühnen von LKW, herabhängende Äste, tiefhängende Werbeschilder oder in den Fußweg hereinragende Sonnenschirme), könne sie nicht rechtzeitig wahrnehmen, was schon häufig zu Verletzungen geführt habe. Beim Laser-Langstock sei im Griff des Blindenstocks eine elektronische Zusatzeinrichtung samt Energieversorgung untergebracht, die mittels Laserstrahl Hindernisse erfasst, die sich oberhalb des Stocks im Kopf- und Brustbereich des Blinden befinden. Werde ein Hindernis erfasst, beginne der Griff zu vibrieren. Gefährdende Bereiche könnten so umgangen werden.

Das Sozialgericht Koblenz gab der Versicherten Recht: Dem Gericht leuchtete ein, dass Hindernisse, die sich in Kopf-, Schulter- und Hüfthöhe befinden, und damit von einem herkömmlichen Blindenstock nicht erfasst werden können, schwere Verletzungen verursachen können. Solche Hindernisse seien im allgemeinen Umfeld ständig vorhanden. Der Laser-Langstock habe deshalb wesentliche Gebrauchsvorteile gegenüber dem herkömmlichen Blindenlangstock. Die Klägerin benötige das Hilfsmittel täglich, um einer Beschäftigung nachzugehen, soziale Kontakte zu pflegen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Nur so sei die Klägerin in der Lage, trotz ihrer Behinderung möglichst umfassend am allgemeinen Leben teilzuha­ben. Für diesen Behinderungsausgleich biete der beantragte Laser-Langstock einen zusätzlichen wesentlichen Gebrauchsvorteil, der sich nicht lediglich in einem höheren Komfort erschöpft. Um dem Umgang mit dem Laser-Langstock zu erlernen, wurden der Klägerin außerdem zehn Trainingsstunden bewilligt.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Sozialgericht Koblenz
IWW - Institut für Wirtschaftspublizistik

Tenor:

1. Unter Aufhebung des Bescheides vom 27.08.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2015 wird der Beklagte verurteilt, die Klägerin mit einem Laser-Langstock nebst zehn Stunden Orientierungs- und Mobilitätstraining zur Einweisung in den Umgang mit dem Laser-Langstock zu versorgen.

2. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Versorgung der Klägerin mit einem Laser-Langstock und die Übernahme von zehn Stunden Orientierungs- und Mobilitätstraining zur Einweisung in den Umgang mit dem Laser-Langstock.

Die am 05.11.1965 geborene Klägerin ist seit ihrem 27. Lebensjahr durch eine Retinopathia pigmentosa vollständig erblindet. Nach einer Umschulung geht sie einer vollschichtigen versicherungspflichtigen Beschäftigung als Masseurin in einer Allergieklinik nach. Seit dem Jahre 1993 ist die Klägerin mit einem Blinden-Langstock zu Lasten ihrer gesetzlichen Krankenkasse (= der jetzigen Beigeladenen) versorgt. Die entsprechenden Schulungen hierfür wurden übernommen. Die Klägerin ist in der Lage, bekannte Wege in der Regel ohne eine Begleitperson selbständig zu bewältigen. Aufgrund eines Umzuges wurde im Jahre 2004 eine Nachschulung mit dem Blinden-Langstock erforderlich. Die Kosten wurden eben-falls von der Krankenkasse übernommen. Die Klägerin lebt allein und kann sich selbständig versorgen.

Mit Schreiben vom 25.10.2013, eingegangen am 28.10.2013, beantragte die Klägerin bei der Beigeladenen als der Krankenkasse, bei der sie seinerzeit gesetzlich krankenversichert war, die Kostenübernahme für Schulungen zur Erprobung eines Laser-Langstocks sowie für den Laser-Langstock selbst. Beigefügt waren entspre-chende Verordnungen des Augenarztes vom 14.05.2013. Der Kostenvoranschlag der Rehabilitationslehrerin für Blinde und Sehbehinderte vom 25.10.2013 dazu weist folgende Positionen aus: 1 Griff Laser-Langstock inklusive Ladegerät (= 1.722,70 EUR) + 1 Telefaltstock TF 28 als 6-teiliger Stock, längenverstellbar, mit Spreizdorn zur Adaption an den Grifflaser-Langstock (= 209,72 EUR) + eine Jumborollspitze (= 42,00 EUR) = gesamt 1.974,42 EUR. Der Kostenvoranschlag für die Erpro-bung des Laser-Langstocks mit zehn Schulungsstunden einschließlich Fahrtzeitentschädigung und Fahrtkostenerstattung für die gefahrenen Kilometer beläuft sich auf insgesamt 895,23 EUR.

Mit Schreiben vom 05.11.2013 übersandte die beigeladene Krankenkasse den Antrag der Klägerin an den Beklagten als Träger der Sozialhilfe: Die Prüfung habe ergeben, dass der Beklagte für die beantragte Leistung zuständig sei. Der Antrag werde deshalb mit den vorliegenden Unterlagen fristgerecht zur weiteren Bearbei-tung weitergeleitet. Eine Information der Versicherten und des Leistungserbringers habe man vorgenommen. Der Antrag ging bei dem Beklagten am 07.11.2013 ein.

Mit Schreiben vom 30.11.2013 bat die Klägerin den Beklagten um eine schnelle und wohlwollende Entscheidung. Sie müsse regelmäßig ihren Vater in B. N. besuchen, um ihm bei Alltagsverrichtungen Unterstützung zu leisten. Außerdem betreue sie ihre psychisch erkrankte Schwester in D. Die beantragten Leistungen seien erforderlich, um die Sicherheit und Stabilität der Teilhabe am öffentlichen Leben und die Versorgung ihrer engsten Angehörigen sicherzustellen. Am 26.08.2014 nahm der Sozialfachdienst des Beklagten Kontakt mit der Krankenkasse auf. Befragt zu den Gründen für die Weiterleitung erklärte diese telefonisch, dass nur unabdingbar notwendige Hilfsmittel von der Krankenkasse zu übernehmen seien. Dies sei durch die Versorgung mit dem einfachen Blinden-Langstock erfolgt.

Mit Bescheid vom 27.08.2014 lehnte der Beklagte daraufhin den Antrag auf Kostenübernahme ab. Er führte aus, dass er nach der Weiterleitung gemäß § 14 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) als zweitangegangener Träger über den Antrag zu entscheiden habe. In diesem Rahmen seien die Leistungsvoraussetzungen des SGB IX zu prüfen. Da diese nach Auskunft der Krankenkasse nur für einen einfachen Blinden-Langstock gegeben seien, komme eine Kostenübernahme für den beantragten Laser-Langstock nicht in Betracht. Als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach §§ 53 ff. des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII) i. V. m. § 55 SGB IX sei das beantragte Hilfsmittel ebenfalls nicht zu gewähren, da der Klägerin bereits durch die gesetzliche Krankenkasse ein ausreichendes Hilfsmittel zur Verfügung gestellt worden sei. Die Übernahme der Kosten für das Hilfsmittel aus Mitteln der Sozialhilfe sei daher nach den Vorschriften des SGB XII ausgeschlossen.

Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 18.09.2014, eingegan-gen bei dem Beklagten am 19.09.2014. In ihrem Widerspruch führte die Klägerin aus, dass es richtig sei, dass sie bereits mit einem Blinden-Langstock versorgt sei. Der beantragte Laser-Langstock könne jedoch nicht mit einem herkömmlichen Blinden-Langstock verglichen werden. Der Laser-Langstock biete hochgradig Sehbehinderten und Blinden erhebliche Gebrauchsvorteile. Mittels eines herkömmlichen Blinden-Langstocks werde es blinden Personen lediglich ermöglicht, Hindernisse wahrzunehmen, die sich in unmittelbarer Bodennähe befinden. Hindernisse, die sich oberhalb der Hüfte befinden, könnten mittels des Blinden-Langstocks nicht rechtzeitig wahrgenommen werden und stellten eine erhebliche Gefahrenquelle dar. Durch den in Griffhöhe befindlichen Laser ermögliche der Laser-Langstock die Möglichkeit, derartige Hindernisse (z. B. auf Bauch- oder Kopfhöhe herabgelassene Hebebühnen von LKW, herabhängende Äste, tiefhängende Werbeschilder oder in den Fußweg hereinragende Sonnenschirme) wahrzunehmen. Der Laser-Langstock ermögliche eine sicherere Teilnahme am Straßenverkehr und biete damit gegenüber dem herkömmlichen Blinden-Langstock einen erheblichen Gebrauchsvorteil. Bei dem Laser-Langstock handele es sich um ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), so dass im Grunde die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse gegeben sei. Nach der Weiterleitung müsse nunmehr der Beklagte den Versorgungsanspruch erfüllen. Dabei umfasse die Versorgung gemäß § 33 Abs. 1 SGB V auch die Einweisung in das Gebrauch des Hilfsmittels, so dass sich unmittelbar aus § 33 SGB V auch ein Anspruch auf die zehn Schulungsstunden im Umgang mit dem Laser-Langstock ergebe.

Der Beklagte bat daraufhin die Krankenkasse im Rahmen der Amtshilfe wiederholt um Mitteilung, inwieweit eine Leistungsgewährung nach den Vorschriften des SGB V möglich sei bzw. ausscheide. Mit Schreiben vom 10.02.2015 teilte diese dem Beklagten mit, dass weder ein Anspruch auf einen Laser-Langstock noch für das Training bestehe. Die Klägerin sei mit einem Blinden-Langstock ausgestattet; das Training dafür sei übernommen worden. Die zusätzliche Ausstattung mit einem Laser-Langstock sei nicht erforderlich. Eine medizinische Begründung dafür liege jedenfalls nicht vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.04.2015 wurde der Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung führte der Beklagte aus: Die Krankenkasse habe innerhalb der Zwei-Wochen-Frist nach § 14 Abs. 1 SGB IX den Antrag weitergeleitet. Damit sei der Beklagte zuständig geworden. Anspruchsgrundlage für die Versorgung mit einem Laser-Langstock einschließlich der Einweisung in den Umgang mit demselben sei § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. In dessen Rahmen sei die gesetzliche Krankenversicherung allerdings nur für den Basisausgleich der Folgen einer Behinderung eintrittspflichtig. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sei allein die medizinische Rehabilitation, um ein selbständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation sei Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Die Ausgleichsverpflichtung der Krankenkasse erstrecke sich räumlich nur auf den Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreiche, und dem Gegenstand nach nur auf diejenigen Mittel, die für diesen Nachteilsausgleich funktionell erforderlich seien. Zu prüfen sei, inwieweit der Versicherte bereits mit Hilfsmitteln ausgestattet sei und ob das erstrebte Hilfsmittel eine Überversorgung darstelle. Im Falle der Klägerin fehle es an der Erforderlichkeit der Versorgung mit einem Laser-Langstock. Sie sei bereits mit einem Blinden-Langstock ausgestattet worden und habe dafür insgesamt 95 Stunden Orientierungs- und Mobilitätstraining in den Jahren 2004 bis 2010 erhalten. Der beantragte Laser-Langstock ermögliche nicht die Fortbewegung als solches. Die Mobilität der Klägerin werde bereits durch den Blinden-Langstock hergestellt. Nach den Vorschriften des SGB V bestehe deshalb kein Anspruch auf die Versorgung mit einem Laser-Langstock bzw. ein entsprechendes Orientierungs- und Mobilitätstraining. Gleiches gelte nach den Vorschriften des SGB XII. Hier käme eine Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 54 Abs. 1 SGB XII in Verbindung mit § 55 SGB IX in Betracht. Eine solche Sozialhilfeleistung werde von der Klägerin aber nicht gewollt und dürfe ihr deshalb nicht aufgedrängt werden. Im Übrigen gelte der Grundsatz der Nachrangigkeit der Sozialhilfe. Sei eine Hilfebedürftigkeit nicht nachgewiesen, gehe dies zu Lasten des Antragstellers.

Hiergegen richtet sich die am 28.05.2015 beim Sozialgericht Koblenz eingegangene Klage.

Die Klägerin verweist auf ihre Ausführungen im Widerspruch. Ergänzend führt sie aus, dass sie den beantragten Laser-Langstock bisher nicht angeschafft habe. Der Laser-Langstock sei bereits seit 15 Jahren im Hilfsmittelverzeichnis gelistet. Die Krankenkasse wäre verpflichtet gewesen, über den Antrag gemäß § 33 SGB V zu entscheiden. Die Weiterleitung an den Beklagten sei rechtsmissbräuchlich gewesen, da der hier vorliegende Fall vom Gesetzgeber in § 14 SGB IX gar nicht geregelt sei. Unabhängig davon sei der Beklagte als zweitangegangener Träger zuständig geworden und müsse deshalb die Bewilligung vornehmen. Die Klägerin hat dazu aktualisierte Kostenvoranschläge vorgelegt.


Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 27.08.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2015 aufzuheben und den Beklagten als Zweitangegangenen zu verurteilen, sie mit einem Laser-Langstock nebst zehn Stunden Orientierungs- und Mobilitätstraining zur Einweisung in den Umgang mit dem Laser-Langstock zu versorgen.


Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bezieht sich auf die Ausführungen in seinen Bescheiden und ergänzt, dass die Beigeladene mitgeteilt habe, dass das Hilfsmittel Laser-Langstock technisch noch nicht ausgereift sei. Eine Bewilligung komme nicht in Frage.

Mit Beschluss vom 16.11.2015, geändert durch Beschluss vom 12.02.2016, hat das Gericht die Krankenkasse gemäß § 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu dem Rechtsstreit beigeladen. Die Beigeladene hat mitgeteilt, dass die Weiterleitung an den Beklagten rechtmäßig gewesen sei. Da Hilfsmittel durch die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung ausschließlich zur medizinischen Rehabilitation zur Verfügung gestellt würden, finde § 14 SGB IX auch bei der Versorgung mit Hilfsmitteln Anwendung. Unabhängig davon bestehe jedenfalls jetzt kein Leistungsanspruch mehr gegenüber der Beigeladenen, da die Klägerin seit dem 01.08.2015 bei einer anderen Krankenkasse versichert sei. Einen Antrag hat die Beigeladene nicht gestellt.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 15.03.2017 hat das Gericht die Kläge-rin ausführlich befragt. Dabei hat die Klägerin u.a. mitgeteilt, dass sie mit dem bis-her verwendeten Blinden-Langstock schon viele Blessuren und Stürze erlitten habe. Bei vielen Gelegenheiten gehe der einfache Langstock unter dem Hindernis vorbei und zeige nicht an, was sie in Kopf- oder Schulterhöhe treffen könne (z.B. Hängeschränke, Baustellenschilder oder große Mülltonnen). Bei ihrer Körpergröße von 1,80 m könne sie alle Hindernisse zwischen 1,50 m und 1,80 m nicht wahr-nehmen. Ergänzend hat die Klägerin vorgetragen, dass sie sei dem Jahre 2016 an einem Tinnitus und einem Hörverlust von 30 % leide. Sie könne deshalb bestimmte Geräusche (wie das Öffnen elektrischer Türen) nicht wahrnehmen. Ein Blinden-führhund komme für sie nicht in Frage, da sie täglich zehn Stunden unterwegs sei und in einem Allergiezentrum arbeite. Zum Ergebnis der weiteren Befragung wird auf die Niederschrift verwiesen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands Bezug genommen auf den Inhalt der vorliegenden Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten. Die darin enthaltenen medizinischen Feststellungen sowie das Vorbringen der Beteiligten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch gegenüber dem Beklagten auf Versorgung mit dem beantragten Laser-Langstock einschließlich zehn Stunden Orientierungs- und Mobilitätstraining. Die ablehnenden Bescheide des Beklagten vom 27.08.2014 und 28.04.2015 erfolgten zu Unrecht und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Bescheide waren aufzuheben und der Beklagte zur Leistung zu verurteilen.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 33 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 ausgeschlossen sind. Der Anspruch umfasst auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln sowie die Ausbildung in ihrem Gebrauch.

Bei dem von der Klägerin beantragten Laser-Langstock handelt es sich um ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 SGB V. Der Laser-Langstock der Firma Vistac ist unter der Gruppe 07 (Blindenhilfsmittel) als Produkt 07.50.02.3002 (elektronische Blindenleitgeräte - Leitgerät für den Körperschutz [Hindernismelder] zur Stockmontage) gelistet. Der Eintrag in das Hilfsmittelverzeichnis erfolgte am 15.04.2008. Die Beschreibung dort lautet wie folgt: "Der Laser-Langstock bietet mit Hilfe eines Laser-Systems Schutz vor Hindernissen, die mit dem einfachen Langstock nicht erfasst werden können. Die elektronische Zusatzeinrichtung ist samt Energieversorgung im Griff eines Lang-Stocks untergebracht. Im vorderen Teil des Griffs befinden sich ein Laser-Sender und ein Empfänger für die an Hindernissen reflektierte Laser-Strahlung. Im oberen Teil des Griffes, der von der Hand umfasst wird, ist ein Vibrationssignalgeber angebracht. Dieser lässt den Griff bei der Fassung eines Hindernisses vibrieren. Durch die asymmetrische Form des Griffes kann dieser so ausgerichtet werden, dass sich der Laser-Strahl oberhalb des Stocks befindet. Damit entspricht diese Reichweite in etwa der Stockreichweite. Durch die Ausrichtung des Strahls werden nur diejenigen Hindernisse erfasst, die sich genau oberhalb des Stocks im Kopf- und Brustbereich befinden. Sobald von einem Hindernis reflektiertes Licht gemessen wird, beginnt der Signalgeber zu vibrieren. Die Vibration erfolgt ununterbrochen, solange reflektierendes Licht empfangen wird - also so lange sich ein Hindernis oberhalb des Stocks im Kopf- und Brustbereich befindet. Es handelt sich somit um eine reine Ja-Nein-Information: Sobald der Signalgeber vibriert, muss der Benutzer reagieren, da sich ein Hindernis in Stockreichweite befindet. Da der Laser-Fächer sehr schmal ist und sich oberhalb des Stocks befindet, lassen sich Hindernisse sehr genau lokalisieren. Der Griff des Laser-Langstocks kann mit verschiedenen Langstöcken kombiniert werden."

Dieses Hilfsmittel ist vorliegend zur Versorgung der Klägerin erforderlich. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass der beantragte Laser-Langstock für die Klägerin einen wesentlichen Gebrauchsvorteil bietet, der - mehr als der bisher zur Verfügung stehende Blinden-Langstock - geeignet ist, die bestehende Behinderung (hier: vollständige Erblindung) auszugleichen.

Dass Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit einem neuen und technisch verbesserten Hilfsmittel haben, auch wenn dessen Kosten höher sind als die der bisherigen und noch funktionstüchtigen Versorgung, hat das Bundessozialgericht bereits in seiner Entscheidung vom 06.06.2002 deutlich hervorgehoben (vgl. BSG, Urteil vom 06.06.2002 - B 3 KR 68/01 R [C-Leg] = SozR 3-2500 § 33 Nr. 44). Das Bundessozialgericht hat in diesem Urteil darauf hingewiesen, dass das Ziel der Versorgung behinderter Menschen mit Hilfsmitteln im Sinne einer Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 1 Satz 1 SGB IX nicht ausschließt, dass ein noch voll funktionstüchtiges Hilfsmittel zu Lasten der Krankenkasse durch ein technisch verbessertes Gerät mit Gebrauchsvorteilen gegenüber dem bisherigen Hilfsmittel ersetzt wird, wenn sich die Verbesserung in Lebensbereichen auswirkt, die zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen. Sofern sich das verbesserte Gerät weder auf spezielle Lebensbereiche begrenzt noch die Gebrauchsvorteile sich lediglich in der Bequemlichkeit oder im Komfort der Nutzung erschöpfen, ist deshalb zum mittelbaren Behinderungsausgleich eine Hilfsmittelversorgung zu Lasten der Krankenkasse auf Antrag des Versicherten auch mit dem verbesserten Gerät vorzunehmen (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 13; fortgeführt durch BSG, Urteil vom 16.09.2004 - B 3 KR 20/04 R = SozR 4-2500 § 33 Nr. 8 = BSGE 93, 183).

Vorliegend ist die Mobilität der Klägerin ein Grundbedürfnis, das der beantragte Laser-Langstock nach dem gegenwärtigen Stand der Technik so weit wie möglich deckt. Der Gebrauchsvorteil liegt darin, dass sich - anders als beim herkömmli-chen Blinden-Langstock - auch Hindernisse wahrnehmen lassen, die sich nicht ausschließlich auf dem Boden befinden. Zwar kann auch der Laser-Langstock nicht das Sehvermögen im Sinne eines vollständigen funktionellen Ausgleichs ersetzen. Er bietet jedoch einen (zusätzlichen) Ersatz für die durch die Blindheit ausgefallene oder zumindest erschwerte Möglichkeit der Umweltkontrolle. Der Funktionsausgleich betrifft unmittelbar die Behinderung. Dem Gericht leuchtet es ein, dass Hindernisse, die sich in Kopf-, Schulter- und Hüfthöhe befinden, und damit von einem herkömmlichen Blinden-Langstock nicht erfasst werden können, schwere Verletzungen verursachen können. Solche Hindernisse sind im allgemeinen Umfeld ständig vorhanden. Die von der Klägerin genannten Beispiele (wie z.B. Verkehrs- oder Hinweisschilder, LKW-Hebebühnen, herabhängende Äste, Schirme oder große Mülltonnen) sind unmittelbar nachvollziehbar. Der Laser-Langstock hat insofern wesentliche Gebrauchsvorteile gegenüber dem herkömmlichen Blinden-Langstock. Die Klägerin benötigt das Hilfsmittel täglich, um einer vollschichtigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachzugehen, soziale Kontakte zu pflegen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen: Die Klägerin ist ohne Begleitperson in der Lage, ihren Beschäftigungsort mit öffentlichen Verkehrsmitteln aufzusuchen, sich allein zurechtzufinden und sich alleine zu versorgen. Die Klägerin ist so in der Lage, trotz ihrer Behinderung möglichst umfassend am allgemeinen Leben teilzuhaben. Für diesen Behinderungsausgleich bietet der beantragte Laser-Langstock einen zusätzlichen wesentlichen Gebrauchsvorteil, der sich nicht lediglich in einem höheren Komfort erschöpft. Dass der beantragte Laser-Langstock - wie von der Beigeladenen dem Beklagten mitgeteilt - technisch unausgereift ist, dafür liegen dem Gericht keine Anhaltspunkte vor.

Entgegen der Auffassung der Beklagten bedurfte es auch keiner weiteren medizinischen Ermittlungen. Die vollständige Blindheit der Klägerin ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Das Gericht hat keine Anhaltspunkte für Zweifel hieran. Ob bei der Klägerin zusätzlich ein Tinnitus mit Einschränkung des Hörvermögens besteht, kann dahinstehen. Allein die vollständige Blindheit begründet vorliegend die Erforderlichkeit des beantragten Hilfsmittels hinreichend. Ebenfalls dahinstehen kann, ob mit einem Blindenführhund ein funktionell gleichwertiges, aber preiswerteres Hilfsmittel zur Verfügung stünde (zur Kostenübernahme eines Blindenführhundes an Stelle eines Blinden-Langstocks vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02.10.2013 - L 5 KR 99/13 = NZS 2014, 180; Juris). Unter Berücksichtigung der glaubhaften Angaben der Klägerin zu ihrem Arbeitsplatz (Allergieklinik) und zum Umfang ihrer Mobilität (zehn Stunden pro Tag) ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass dies mit dem Halten eines Blindenführhundes ohnehin nicht vereinbar wäre. Unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§ 12 Abs. 1 SGB V) hält die Kammer den beantragten Laser-Langstock für erforderlich. Zur Versor-gung mit dem beantragten Hilfsmittel gehört dabei auch das beantragte Orientierungs- und Mobilitätstraining zur Einweisung in den Umgang mit dem Laser-Langstock. Dabei erscheinen dem Gericht die beantragten zehn Stunden als angemessen.

Dieser Anspruch gemäß § 33 SGB V hätte bei der Antragstellung am 25.10.2013 bereits gegenüber der Beigeladenen bestanden. Hingegen ist die Klägerin zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr bei der Beigeladenen krankenversichert. Ob eine Verurteilung der Beigeladenen zur Hilfsmittelgewährung zum jetzigen Zeitpunkt möglich wäre, kann allerdings dahinstehen, da durch die Weiterleitung des Antrages an den Beklagten am 05.11.2013 dieser für die Erbringung der Leistung gegenüber der Klägerin zuständig geworden ist.

§ 14 SGB IX enthält eine für die Rehabilitationsträger abschließende Regelung, die den allgemeinen Regelungen zur vorläufigen Zuständigkeit oder Leistungserbringung und den Leistungsgesetzen der Rehabilitationsträger vorgeht. Der behinderte Mensch wird so gestellt, als hätte er gleichzeitig bei allen Rehabilitationsträgern einen Rehabilitationsantrag gestellt. Er soll aber nur einen Ansprechpartner benötigen. Die in § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX geregelte Zuständigkeit erstreckt sich im Außenverhältnis (behinderter Mensch - Rehabilitationsträger) auf alle Rechtsgrundlagen, die überhaupt in dieser Bedarfssituation vorgesehen sind, d.h. es muss nach allen Vorschriften der SGB II, III, V, VI, VII, XII geleistet werden, auch wenn die Behörde für die beantragte Leistung gar nicht Rehabilitationsträger i.S.v. §§ 6, 6a SGB IX ist ("aufgedrängte Zuständigkeit"). Das Verfahren zur Klärung der Leistungspflicht gem. § 14 Abs. 1, 2 SGB IX bewirkt damit im Ergebnis, dass die eigentliche spezialgesetzlich geregelte Zuständigkeit durch eine beson-dere Leistungspflicht verdrängt wird (vgl. dazu Luik in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Auflage 2015, § 14 SGB IX, Rn. 40 ff.). Vorliegend ist der Antrag der Klägerin am 28.10.2013 bei der beigeladenen Krankenkasse eingegangen. Diese hat den Antrag am 05.11.2013 und damit innerhalb der Zweiwochenfrist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX an den Beklagten weitergeleitet. Der Antrag war auf Leistungen zur Teilhabe im Sinne der §§ 4, 5 SGB IX gerichtet, so dass er "umfassend, d.h. auf alle nach Lage des Falls in Betracht kommenden Leistungen und Anspruchsgrundlagen hin, zu prüfen ist" (so zuletzt z.B. BSG, Urteil vom 03.02.2015 - B 13 R 261/14 B, juris).

Ob vorliegend die (ohne eine echte Prüfung erfolgte) Weiterleitung durch die Beigeladene rechtsmissbräuchlich war, muss dabei im Leistungsstreit des Versicherten dahinstehen. Mit der Weiterleitung wird die Zuständigkeit gesetzlich bestimmt. Der zweitangegangene Träger muss gegenüber dem behinderten Menschen alle denkbaren Rechtsgrundlagen - auch nach den Leistungsgesetzen anderer Träger - prüfen und ggf. leisten. Die Wirksamkeit der Weiterleitung wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass der weiterleitende erstangegangene Träger objektiv zuständig ist; dem trägt die Erstattungsregelung des § 14 Abs. 4 SGB IX hinreichend Rechnung (vgl. dazu Luik in: Schlegel/Voelzke, jurisPK, a.a.O. Rn. 88 ff.). Für den Versicherten soll nach einer Weiterleitung seines Antrages klar sein, dass der zweitangegangene Träger für ihn zuständig ist.

Der Beklagte hat in seinen Bescheiden vom 27.08.2014 und 28.04.2015 zu Recht Ansprüche nach den Vorschriften des SGB V, IX und XII geprüft. Bleiben dabei - wie hier - Nachfragen beim erstangegangenen Träger zu spezialgesetzlichen Vorschriften ohne Erfolg, muss der zweitangegangene Träger ggf. eigene Ermittlungen anstellen. Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen hätte der Beklagte hier das beantragte Hilfsmittel einschließlich der Trainingsstunden nach § 33 SGB V bewilligen müssen. Seine Auslagen kann er ggf. im Wege des Erstattungsverfahrens gegen die Beigeladene bzw. die jetzige Krankenkasse der Klägerin geltend machen. Gegenüber der Klägerin ist jedenfalls der Beklagte als zweitangegangener Träger zur Sachleistung im genannten Umfang verpflichtet.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG. Sie entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

Referenznummer:

R/R7410


Informationsstand: 26.06.2017