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Urteil
Krankenversicherung - keine Versorgung mit einem Elektrorollstuhl als Hilfsmittel bei krankheitsbedingt aufgehobener Fähigkeit zur Teilnahme am Straßenverkehr

Gericht:

SG Dresden 18. Kammer


Aktenzeichen:

S 18 KR 1278/04


Urteil vom:

16.03.2006


Leitsatz:

Die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung setzt voraus, dass der Fahrer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt, um sich sicher im Verkehr bewegen zu können. Erweist sich der Versicherte als zum Führen eines Fahrzeugs ungeeignet, scheidet eine Versorgung aus, weil der Versicherte nicht nach sozialrechtlichen Vorschriften die Herstellung eines Zustands verlangen kann, der nach straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften sofort wieder untersagt werden müsste (vgl § 3 Abs 1 FeV).

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

JURIS-GmbH

Tenor:

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der am Verlust eines Beines im Unterschenkel, Amputation zweier Zehen am anderen Bein, Diabetes mellitus mit diabetischer Nephropathie, Polyneuropathie und kardialer Neuropathie, Hypertonie, einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit, Morbus Dupuytren rechts, einer Kraftminderung nach Fraktur der Hand links sowie einem hirnorganischen Psychosyndrom bei Alkohol- und Nikotinabusus leidende Kläger wendet sich mit seiner am 04.11.2004 beim Sozialgericht Dresden eingegangenen Klage gegen die Ablehnung seines Antrags auf Versorgung mit einem Elektrorollstuhl durch Bescheid der Beklagten vom 01.04. 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.10.2004, welche die Beklagte damit begründet hat, der Kläger sei mit dem derzeit genutzten Greifreifenrollstuhl ausreichend versorgt.

Das Gericht hat einen Befundbericht beim behandelnden Facharzt für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. F. (Bl. 30 der Sozialgerichtsakte) und ein nervenfachärztlich-verkehrsmedizinisches Gutachten beim Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. (Bl. 43 bis 49 der Sozialgerichtsakte) eingeholt. Der Sachverständige hat die bereits vom behandelnden Arzt diagnostizierte Alkoholabhängigkeit mit psychischen Störungen in Form eines hirnorganischen Psychosyndroms bei herabgesetzten kognitiven Leistungen sowie eingeschränktem Kritik- und Urteilsvermögen bestätigt und eingeschätzt, dass der Kläger nicht in der Lage sei, mit einem Elektrorollstuhl am Straßenverkehr teilzunehmen. Im Übrigen liege keine Funktionsbehinderung der Arme vor; zur Selbstversorgung sei der Kläger auch mit einem Greifreifenrollstuhl in der Lage, was sich schon daraus ergebe, dass er gelegentlich sogar Wegstrecken von bis zu 4 km mit Anstieg bewältige.

Der Kläger ist dem Gutachten unter Hinweis darauf entgegen getreten, dass der Sachverständige dem Kläger im Rahmen der Begutachtung keine Blutprobe entnommen habe.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte und auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann über den Rechtsstreit gemäß § 105 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten auf Anfrage keine Gründe vorgetragen haben, die einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid entgegen stehen würden.

Die Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Elektrorollstuhl zum Ausgleich einer Behinderung gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V, weil er nach den Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen, mit dem Greifreifenrollstuhl ausreichend versorgt ist. Das Gericht schließt sich dem Gutachten nach inhaltlicher Überprüfung auf Vollständigkeit und Schlüssigkeit, auch im Vergleich mit den bereits beigezogenen Befunden, in vollem Umfang an. Die fachliche Eignung des Gutachters zur Beurteilung auch der körperlichen Mobilitätseinschränkungen beruht auf dessen Facharztqualifikation auf neurologischem Fachgebiet. Die ärztlichen Feststellungen decken sich im Wesentlichen mit der Einschätzung des behandelnden Arztes und werden durch die mitgeteilte Anamnese betätigt.

Behinderungsausgleich im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V bedeutet nicht, dass über die Behinderung als solche hinaus auch sämtliche direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen wären. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Ob die Krankenkasse einen konkreten Gegenstand als Hilfsmittel bereitzustellen hat, richtet sich nach dem konkreten Zweck der Versorgung. Wenn ein Gegenstand einen Ausgleich der eingeschränkten Körperfunktion des Behinderten - anders als etwa Prothesen oder Hörgeräte - nur mittelbar bzw. nur in einzelnen Lebensbereichen erzielen kann, ist zu prüfen, in welchem Lebensbereich er sich auswirkt. Es reicht nicht aus, wenn eine Verbesserung sich nur in Lebensbereichen auswirkt, die nicht zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen. Die Versorgung mit Hilfsmitteln ist nur dann Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn sie der Sicherstellung eines allgemeinen Grundbedürfnisses dient. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gehören zu den Grundbedürfnisses des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrung aufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Das hier in Betracht kommende Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" hat die Rechtsprechung nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den Möglichkeiten des Gesunden verstanden. So hat das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 08.06.1994, Az. 3/ 1 RK 13/93, zwar die Bewegungsfreiheit als Grundbedürfnis bejaht, aber dabei nur auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein Gesunder zu Fuß zurücklegt. In seinem Urteil vom 16.09.1999, Az. B 3 KR 8/98 R, hat es das auf die Fähigkeit konkretisiert, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Für diese Zwecke reicht nach den Feststellungen des Gutachters der vorhandene Greifreifenrollstuhl.

Die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl scheitert darüber hinaus an der fehlenden Fahreignung des Klägers. Anders als bei dem Greifreifenrollstuhl (vgl. § 24 Abs. 1 StVO) handelt es sich bei einem Elektrorollstuhl um ein - wenn auch fahrerlaubnis- und zulassungsfreies (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FeV, § 18 Abs. 2 Nr. 5 StVZO) - Fahrzeug im Sinne der Straßenverkehrsordnung. Die Teilnahme damit am Verkehr setzt auch ohne gesonderte Erlaubnispflicht voraus, dass der Fahrer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt, um sich sicher im Verkehr bewegen zu können (§ 1 FeV in Verbindung mit § 2 Abs. 4 StVG). Erweist sich jemand als zum Führen eines Fahrzeugs ungeeignet, so scheidet eine Versorgung mit dem Fahrzeug als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung von vorn herein aus, weil der Versicherte nicht nach sozialrechtlichen Vorschriften die Herstellung eines Zustands verlangen kann, der anschließend durch die Fahrerlaubnisbehörde nach straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften sofort wieder untersagt werden müsste (vgl. § 3 Abs. 1 FeV).

An der Richtigkeit der Einschätzung des - verkehrsmedizinisch qualifizierten - Gutachters, dass dem Kläger auf Grund erheblicher kognitiver und Verhaltensbeeinträchtigungen die notwendige Eignung zur Teilnahme am Verkehr mit einem Elektrorollstuhl fehlt, bestehen keine Zweifel. Dem steht nicht entgegen, dass der Sachverständige den Kläger keinem Blutalkoholtest unterzogen hat. Das Ergebnis eines solchen Tests würde am Ergebnis des Gutachtens nichts ändern. Die bei der Begutachtung festgestellte Einschränkung der Fahreignung beruht nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht in erster Linie auf einer akuten alkoholischen Intoxikation, sondern auf einem hirnorganischen Psychosyndrom, dessen Auswirkungen nicht vom Blutalkoholspiegel abhängen. Ist der Kläger zur Begutachtung nüchtern erschienen, dann geben die gleichwohl festgestellten Persönlichkeitsveränderungen die Schwere der dauerhaften psychischen Beeinträchtigung wieder. Sollte er aber sogar bei der Begutachtung unter akutem Alkoholeinfluss gestanden haben, dann würde solch ein der Situation unangemessenes Verhalten nur den Verlust der Steuerungsfähigkeit in einem Ausmaß unterstreichen, das die Fahrereignung ebenso ausschließt. Dass der Kläger mit einem Greifreifenrollstuhl gleichwohl am Straßenverkehr teilnimmt, widerlegt nicht die mangelnde Eignung zum Führen eines Elektrorollstuhls. Nur im Hinblick auf die auch vom Verordnungsgeber in § 24 Abs. 1 StVO pauschal angenommene geringere Gefährlichkeit kann das Führen des Greifreifenrollstuhls hingenommen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 und § 193 Abs. 1 SGG.

Referenznummer:

KSRE103491318


Informationsstand: 04.10.2006