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Urteil
Kein Anspruch auf Versorgung mit einem Elektrorollstuhl bei fehlender Fahrtüchtigkeit

Gericht:

SG Aachen


Aktenzeichen:

S 2 KR 61/09


Urteil vom:

08.07.2010


Tenor:

Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl.

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist Mitglied der Beklagten. Nach einem Verkehrsunfall in den 1960er Jahren wurde ihr das linke Bein amputiert. Die Klägerin war bereits früher mit einem Elektrorollstuhl versorgt, der jedoch nunmehr defekt war. Eine Reparatur war nicht mehr rentabel. Am 02.10.2008 reichte sie daher eine Verordnung des behandelnden Allgemeinmediziners Dr. P. ein, wonach sie einen neuen Elektrorollstuhl benötige. Am 14.10.2008 wurde die Klägerin daraufhin durch die Begutachtungsstelle für Fahreignung des TÜV Rheinland begutachtet. Diese kam zu der Auffassung, die Klägerin könne aufgrund vorliegender Mängel im psycho-physischen Leistungsbereich einen Elektrorollstuhl nicht sicher führen. Mit Bescheid vom 10.12.2008 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag auf Kostenübernahme für einen neuen Rollstuhl ab. Hiergegen legte die Klägerin am 19.12.2008 Widerspruch ein, der indes später zurückgenommen wurde.

Am 22.06.2009 stellte die Klägerin sodann, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, erneut einen Antrag auf Gewährung eines Elektrorollstuhls, da aus ihrer Sicht die Fahrtüchtigkeit für das Führen eines Elektrorollstuhls sehr wohl gewährleistet sei. Mit Schreiben vom 28.08.2009 erklärte die Beklagte, der Bescheid vom 10.12.2008 habe die Kostenübernahme bestandskräftig abgelehnt. Eine neue Verordnung eines Elektrorollstuhls bei entsprechendem Nachweis der Fahrtüchtigkeit der Klägerin liege nicht vor. Am 02.10.2009 beantragte die Klägerin daraufhin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, eine Überprüfung der Entscheidung vom 10.12.2008 gemäß § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X). Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 13.10.2009 abgelehnt. Den dagegen am 19.10.2009 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16.11.2009 als unbegründet zurück.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der am 07.12.2009 erhobenen Klage.

Der Kammervorsitzende hat mit Schreiben vom 23.12.2009 darauf hingewiesen, dass die Ablehnung des Antrags nach § 44 SGB X nicht zu beanstanden sein dürfte, da dessen Voraussetzungen nicht vorlägen. In der Sache gehe es der Klägerin aber wohl darum, dass ihr Antrag vom 22.06.2009 abgelehnt worden sei. Hiergegen sei indes noch kein Widerspruch eingelegt worden. Da das Schreiben vom 28.08.2009 keine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten habe, sei ein Widerspruch - als den man die Klage aus Gründen der Prozessökonomie auslegen könne - auch noch nicht verfristet. Mit Beschluss vom 22.01.2010 ist sodann das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden. Nachdem der Beklagte am 08.02.2010 den Widerspruch zurückgewiesen hat, ist das Verfahren sodann wieder aufgenommen worden.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 13.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.02.2010 zu verurteilen, die Klägerin mit einem Elektrorollstuhl zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des behandelnden Orthopäden Dr. X. und des Allgemeinmedinizers Dr. P ... Beide Ärzte halten dabei weiterhin die Verkehrssicherheit der Klägerin beim Führen eines Elektrorollstuhls für fraglich.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Rechtslage wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig aber nicht begründet.

Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht gemäß § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, weil sie rechtmäßig sind. Sie hat keinen Anspruch auf eine Versorgung mit einem Elektrorollstuhl.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) haben Versicherte Anspruch unter anderem auf Hilfsmittel, die im Einzelfall erforderlich sind, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Der begehrte Elektorollstuhl ist nicht durch die gemäß § 34 Abs. 4 SGB V erlassene "Verordnung über Hilfsmittel von geringem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis der Gesetzlichen Krankenversicherung" ausgeschlossen. Auch handelt es sich dabei nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Unter diesen Begriff fallen nur Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendet werden. Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt und hergestellt worden sind und von diesem Personenkreis ausschließlich oder ganz überwiegend genutzt werden, sind nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen. Ein Elektrorollstuhl kommt für Gesunde nicht in Betracht. Die Klägerin kann unstreitig auch verlangen, dass die bei ihr vorhandenen Behinderungen ausgeglichen werden. Sie hat damit einen Anspruch auf Gewährung von Hilfsmitteln, die zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt werden. Zu diesen allgemeinen Grundbedürfnissen gehören zum einen die körperlichen Grundfunktionen (Gehen, Stehen, Treppensteigen, Sitzen, Liegen, Greifen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung) und zum anderen die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Maßstab ist stets der gesunde Mensch, zu dessen Grundbedürfnissen der kranke oder behinderte Mensch durch die medizinische Rehabilitation und mithilfe des von der Krankenkasse gelieferten Hilfsmittels wieder aufschließen soll (Bundessozialgericht, Urteil vom 07.03.1990, 3 RK 15/89 - Einmalwindeln; Urteil vom 08.06.1994, 3/1 RK 13/93 - Rollstuhlboy; Urteil vom 25.01.1995, 3/1 RK 63/93 - Krankenbett; Urteil vom 12.08.2009, B 3 KR 8/08 R - Elektrorollstuhl).

Dabei ist das Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" - entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - immer nur im Sinne eines Basisausgleichs der Folgen der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines Gesunden verstanden. So hat das Bundessozialgericht zwar die Bewegungsfreiheit als allgemeines Grundbedürfnis bejaht, dabei aber nur auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein gesunder Mensch üblicherweise noch zu Fuß zurücklegt (Bundessozialgericht, Urteil vom 08.06.1994, 3/1 RK 13/93 - Rollstuhlboy). Später ist dies dahingehend präzisiert worden, sich in der eigenen Wohnung bewegen und die Wohnung verlassen zu können, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen (z.B. Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post) zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (Bundessozialgericht, Urteil vom 16.09.1999, B 3 KR 8/98 R - Rollstuhl-Bike für Erwachsene; Urteil vom 12.08.2009, B 3 KR 8/08 R - Elektrorollstuhl).

Bei der Klägerin sind aufgrund einer traumatischen Oberschenkelamputation links bei Zustand nach Verkehrsunfall, Hüftgelenkverschleiß und Wirbelsäulenverschleiß insbesondere die körperliche Grundfunktion des Gehens und Stehens eingeschränkt. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und ergibt sich zum einen aus dem Gutachten des TÜV Rheinland sowie aus den eingeholten Befundberichten des behandelnden Orthopäden Dr. X. und des Allgemeinmediziners Dr. P ... Zum Ausgleich dieser Behinderungen ist ein Rollstuhl zweifelsohne erforderlich. Bei der Versorgung mit dem begehrten Elekrorollstuhl ist aber zusätzlich zu berücksichtigen, dass gewährleistet sein muss, dass die Klägerin mit diesem Hilfsmittel bestimmungsgemäß umgehen kann (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 12.08.2009, B 3 KR 8/08 R - Elektrorollstuhl). Das heißt, die Klägerin müsste in der Lage sein, die Technik des Fahrens mit einem solchen Rollstuhl zu beherrschen, aber darüber hinaus auch die Straßenverkehrsregeln insoweit einzuhalten, als sie für das Fahren mit einem führerscheinfreien Fahrzeug gelten (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 14.01.2010, L 4 KR 189/09). Dies ist bei der Klägerin nicht gegeben, wie sich zur Überzeugung der Kammer sowohl aus dem 2008 eingeholten TÜV Gutachten als auch den aktuell eingeholten Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. X. und Dr. P. und nicht zuletzt dem persönlichen Eindruck der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung ergibt. Die Klägerin leidet unter gravierenden Mängeln hinsichtlich der Aufmerksamkeit, der Orientierungsfähigkeit und der Konzentrationsfähigkeit. Ihre psychomotorischen Abläufe sind deutlich verlangsamt. Daneben leidet sie auch unter Schwerhörigkeit, wovon sich auch die Kammer im Rahmen der mündlichen Verhandlung überzeugen konnte. Die Kammer teilt vor diesem Hintergrund die Auffassung, dass es der Klägerin auch wegen dieser Schwerhörigkeit schwer fällt, den Straßenverkehr ordnungsgemäß wahrzunehmen. Sie erachtet auch die Schilderung des Dr. P. für nachvollziehbar, der darauf hinweist, dass die Klägerin häufig die Straße ohne Berücksichtigung des vorhandenen Straßenverkehrs quert. Dr. X. berichtet zusätzlich von einer Visusbeeinträchtigung bei der Klägerin. Auch er hält - beeinflusst durch die begleitende Opiat-Medikation - die psychische und physische Leistungsfähigkeit der Klägerin für beeinträchtigt. Dies alles korrespondiert mit den mehrfachen Unfällen der Klägerin, die diese mit dem ihr bislang überlassenen Elektrorollstuhl erlitten hat und den hieraus resultierenden zahlreich angefallenen Reparaturen. Es steht nach alledem zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Gesamtheit der körperlichen und psycho-physischen Beeinträchtigungen die Klägerin auch aktuell daran hindern, einen Elektrorollstuhl sicher zu führen. Die begehrte Versorgung mit einem solchen Hilfsmittel kommt vor diesem Hintergrund nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Referenznummer:

R/R3403


Informationsstand: 09.08.2010