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Urteil
Anspruch auf Kostenübernahme für einen Elektrorollstuhl

Gericht:

SG Münster


Aktenzeichen:

S 11 KR 2/03


Urteil vom:

31.08.2004


Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 05.06.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2002 verurteilt, die Kosten zu übernehmen für einen Elektrorollstuhl mit Kopfsteuerung und statischer Sitzschale. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Kostenübernahme für einen Elektrorollstuhl.

Der 1986 geborene Kläger leidet an einem schweren frühkindlichen Hirnschaden mit der Folge, dass er weder Gehen noch Stehen, noch Sprechen kann und Arme und Hände nicht einsetzen kann. Er verständigt sich durch Augenbewegungen und über einen mittels Kopfbewegungen bedienbaren Sprachcomputer. Er lebt seit dem Jahre 2000 bei Pflegeeltern und besucht zur Zeit noch die Westfälische Schule für Körperbehinderte - Regenbogenschule - in N.

Einen ersten Antrag auf Lieferung eines Elektrorollstuhls lehnte die Beklagte September 2001 ab mit der Begründung, beim Kläger sei Verkehrstauglichkeit nicht gegeben.
Im März 2002 beantragte der Pflegekinderdienst für ihn erneut einen Elektrorollstuhl mit Kopfsteuerung und dynamischer Sitzschale zum Preis von laut beigefügtem Kostenvoranschlag 23.643,62 EURO. Beigefügt war dem Antrag ein Schreiben der Regenbogenschule, in der es u.a. heißt, der Kläger sei motorisch und kognitiv fähig einen Elektrorollstuhl über einen Kopfschalter zu steuern. Die dadurch zu gewinnende Selbständigkeit könne nicht hoch genug eingeschätzt werden, da er mit dem Gerät erstmals in der Lage sein werde, sich ohne fremde Hilfe zu bewegen.
Ferner wird vorgelegt eine Bescheinigung der Schulärztin, in der dem Kläger ebenfalls die Fähigkeit attestiert wird, den strittigen Rollstuhl zu bedienen. Aus sozialpädriatischer Sicht sei - so heißt es weiter - dieser Rollstuhl unbedingt empfehlenswert und notwendig.
Des weiteren wird vorgelegt eine Erklärung der behandelnden Physiotherapeutin, in der auch diese feststellt, der Kläger könne einen solchen Rollstuhl bedienen.

Auf diesen Antrag ließ die Beklagte ein Gutachten erstellen von Dr. O vom MDK Westfalen-Lippe auf der Basis eines Hausbesuches am 14.05.2002. Dieser kam zu folgender zusammenfassender Beurteilung: "Möglicherweise ist der Versicherte in der Lage, mit einem Elektrorollstuhl in Begleitung, später vielleicht auch allein, also selbständig, im Wohnbereich fertig zu werden in keiner Weise jedoch zum jetzigen Zeitpunkt im Außenbereich. Ganz klar muss festgestellt werden, dass eine uneingeschränkte Verkehrstauglichkeit nicht besteht. Dieses wird auch bereits ärztlicherseits am 20.09.01 eindeutig verneint. Möglicherweise kann erreicht werden, dass der Versicherte durch entsprechende Anlernvorgänge den Umgang mit dem Elektrorollstuhl erlernen kann, dennoch wird auch für die Zukunft gesehen keine uneingeschränkte Verkehrstauglichkeit bescheinigt werden können. Erschwerend hinzu kommen die zerebralen Krampfanfälle, die ohnehin den Gebrauch eines Elektrorollstuhles eindeutig limitieren. Ob der Versicherte in naher Zukunft in der Lage sein wird, den Elektrorollstuhl beruflich benutzen zu können, muss zum jetzigen Zeitpunkt als fraglich hingestellt werden. Sicherlich wäre diese Möglichkeit erstrebenswert, sie sollte jedoch zunächst vielleicht durch andere Möglichkeiten erprobt werden."

Mit Schreiben vom 05.06.02 lehnte die Beklagte erneut die Kostenübernahme ab mit der Begründung, für die Bewilligung eines Elektrorollstuhls sei absolute Verkehrstauglichkeit erforderlich, die beim Kläger eindeutig nicht gegeben sei.

Dagegen wurde Widerspruch eingelegt, u.a. mit der Begründung, der Kläger könne sich im Wohnbereich selbständig mit dem Rollstuhl bewegen, Verkehrstauglichkeit sei in Zukunft sicherlich auch erwerbbar. Zudem sei der Rollstuhl auch wichtig für die in Zukunft geplante Berufsausbildung, bzw. einem vorgeschaltetem Praktikum.
Die Beklagte holte zu dem Vorbringen eine ergänzende Stellungnahme von Dr. O ein und es wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 06.12.02 zurückgewiesen.

Dagegen hat der Kläger am 06.01.03 Klage erhoben. Zur Begründung wird u.a. ausgeführt, Dr. O als Sportmediziner habe das Krankheitsbild nicht ausreichend erfasst und sei zudem völlig zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger noch unter cerebralen Krampfanfällen leide. Inzwischen habe er einen Rollstuhl der strittigen Art 14 Tage zur Probe gefahren und es sei dies ohne Probleme gewesen. Im übrigen habe sich inzwischen ergeben, dass die ursprünglich beantragte dynamische Sitzschale nicht mehr erforderlich sei, es reiche eine statische Schale, wodurch der Gesamtpreis sich etwa halbiere.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 05.06.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06. 12.2002 zu verurteilen, die Kosten zu übernehmen für einen Elektrorollstuhl mit Kopfsteuerung und statischer Sitzschale.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.
Sie beruft sich auf die Beurteilung des MDK.

Das Gericht hat zur Klärung des Sachverhaltes einen Bericht der Kinderklinik E eingeholt, in dem es u.a. heißt, die antikonvalsive Medikamentation sei Dezember 01 beendet worden. Epileptische Anfälle seien seither nicht mehr beobachtet worden. Allerdings zeige das EEG eine erhöhte Anfallsbereitschaft.

Der Bevollmächtigte des Klägers legte vor eine weitere Erklärung der Physiotherapeutin, in der es heißt sie habe sich während der Erprobungsphase selbst davon überzeugen können, dass der Kläger einen Rollstuhl der strittigen Art überraschend sicher bewegen könne. Die behandelnde Kinderärztin erklärte auf Anfrage des Gerichtes, dass ihres Wissens beim Kläger keine Anfälle mehr aufträten.

Es hat das Gericht zudem Beweis erhoben durch Vernehmung der Pflegemutter des Klägers und es hat das Gericht eine Auskunft des Straßenverkehrsamtes zu den mit dem Führen von E-Rollstühlen verbundenen Rechtsfragen eingeholt.
Zur Aussage der Zeugin, zum Inhalt der Auskunft des Straßenverkehrsamtes, sowie zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozess- und Verwaltungsakten Bezug genommen.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Gemäß § 33 SGB 5 haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, eine Behinderung auszugleichen.

Die Benutzung des strittigen Rollstuhls stellt unstreitig die einzige Möglichkeit des Klägers dar, sich überhaupt, wenn auch nur in einem evtl. stark eingeschränktem Rahmen, selbständig bewegen zu können. Es wird von der Beklagten auch nicht bestritten, dass entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die gesetzlichen Krankenkassen grundsätzlich verpflichtet sind, für einen sog. Basisausgleich im Rahmen des menschlichen Grundbedürfnisses auf Mobilität Sorge zu tragen. Es ist evident, dass der strittige Rollstuhl einen solchen Basisausgleich darstellen würde und zwar den einzig möglichen. Auch dies wird von der Beklagten nicht bestritten.

Bestritten wird von der Beklagten lediglich die Geeignetheit des strittigen Hilfsmittels im Hinblick auf eine vermutete Eigen- bzw. Fremdgefährdung. Dieser Einwand vermag nicht zu überzeugen.

Nach Auffassung des Gerichts ist der E-Rollstuhl nicht nur erforderlich, sondern auch geeignet zum Ausgleich der Schwerstbehinderung des Klägers. Aufgrund der im Tatbestand zitierten ärztlichen Auskünfte und aufgrund der Zeugenaussage der Pflegemutter sieht es das Gericht als ausreichend nachgewiesen, dass seit mehreren Jahren trotz Absetzens entsprechender Medikamente keine cerebralen Krampfanfälle mehr aufgetreten sind. Eine Eigen- oder Fremdgefährdung aus diesem Grund kann daher dem Klageanspruch nicht entgegenstehen.

Soweit Dr. O vom MDK aufgrund seiner einmaligen Untersuchung bezweifelt, dass der Kläger auch im Innenbereich ausreichend sicher mit dem Rollstuhl umgehen könnte, sieht die Kammer dies als widerlegt an durch die Erklärungen der Schule, der Schulärztin, der Physiotherapeutin und der Pflegemutter und aufgrund des vor diesem Hintergrund glaubhaften Vortrages des Klägers zum stattgehabten 14-tägigen Probegebrauch. Eine anspruchsvernichtende nennenswerte Eigen- oder Fremdgefährdung sieht das Gericht daher nicht, zumindest nicht bezogen auf den Wohnbereich oder sonstige Innenbereiche bei Anwesenheit einer Begleitperson. Die Frage, ob der Kläger sich in geschützten Innenbereichen auch ohne ständige Aufsicht mit dem Rollstuhl ohne Eigen- und/ oder Fremdgefährdung bewegen könnte wird vom Gericht angesichts der vorliegenden Erklärungen perspektivisch, ggfs. nach einer Anlern- und Gewöhnungsphase, bejaht, aber letztendlich nicht für entscheidungsrelevant gehalten.

Auch wenn sich letztlich herausstellen sollte, dass eine Aufsichtsperson nötig sein sollte, stellt die Möglichkeit, sich überhaupt eigeninitiativ bewegen zu können, im Falle des Klägers einen derartig massiven Zugewinn an Mobilität dar, dass auch die Notwendigkeit der Anwesenheit einer Aufsichtsperson nicht anspruchsvernichtend wäre.

Erst recht gilt dies für die Frage der Verkehrstauglichkeit. Wie das Straßenverkehrsamt bestätigt, bestehen zunächst keine grundsätzlichen rechtlichen Hindernisse, dass der Kläger - auch ohne Begleitperson - am Straßenverkehr teilnimmt. Sollte es sich dabei erweisen, dass er dazu nicht ausreichend imstande ist, kann und wird das Straßenverkehrsamt entsprechende Auflagen erteilen, sei es in Form der Anordnung einer Begleitung, sei es in Form örtlicher Beschränkung, ggfs. bis zum völligen Verbot der Teilnahme am Straßenverkehr. Wie sich diese Dinge entwickeln, ist naturgemäß einer derzeitigen Beweiserhebung nicht zugänglich, da die Fähigkeit, allein oder in Begleitung am Straßenverkehr teilnehmen zu können, auf jeden Fall eine längere Gewöhnungsphase, bzw. Anlernphase voraussetzt. Perpektivisch hält es die Kammer auch hier für gut möglich, dass der Kläger, hat er den Rollstuhl längere Zeit im Gebrauch, mindestens mit Begleitung am Straßenverkehr teilnehmen könnte, zumal E-Rollstühle mit Kopfschaltersteuerung zu eben diesem Zweck technisch entwickelt wurden.

Wie bereits ausgeführt, ist aber auch dieser Punkt letztlich nach Auffassung der Kammer nicht entscheidungserheblich. Auch wenn E-Rollstühle für die Teilnahme am Straßenverkehr entwickelt wurden, bzw. gedacht sind, vermag die Kammer dem Gesetz nicht zu entnehmen, dass Verkehrstauglichkeit auch dann zwingende Anspruchsvoraussetzung ist, wenn der Zugewinn an Mobilität außerhalb des Straßenverkehrs bereits derart massiv ist.

Der Klage war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R2218


Informationsstand: 21.04.2005