Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 13. März 2019 - 1 Ca 201/18 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Parteien streiten auch zweitinstanzlich um den Anspruch des Klägers auf Beschäftigung.
Die Beklagte ist ein Unternehmen der A Unternehmensgruppe. Sie unterhält in B das Distribution Center B (im Folgenden: DCW) als Gemeinschaftsbetrieb mit der C
GmbH. In dem Gemeinschaftsbetrieb sind circa 380 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt. Die Beklagte ist Mitglied im Arbeitgeberverband Chemie und wendet auf die Arbeitsverhältnisse die Tarifverträge der Chemischen Industrie, so auch den Bundesentgelttarifvertrag vom 18. Juli 1987 in der Fassung vom 1. September 2004 (im Folgenden: BETV), an.
Der 1965 geborene und verheiratete Kläger ist Vater zweier Kinder. Er ist ein mit einem Grad der Behinderung von 70 schwerbehinderter Mensch. Zur Unterstützung beim Gehen nutzt er seit etwa 2008/2009 eine rechtsseitige Unterarmgehstütze. Der Kläger ist seit dem 1. November 1990 bei der Beklagten
bzw. deren Rechtsvorgängerinnen beschäftigt. Die Bruttomonatsvergütung des Klägers betrug zuletzt
EUR 3.821,59 und entspricht einer Eingruppierung in die Entgeltgruppe E8 BETV. Seit 2008 ist der Kläger als Teamkoordinator im Bereich OW3 (Export Operation) beschäftigt. Wegen des Inhalts der ihm als Teamkoordinator zugewiesenen Aufgaben wird auf die interne Funktionsbeschreibung
Nr. 159d / Stand Juni 2016 (BI. 20f. d.A.) Bezug genommen. Als Arbeitsplatz steht dem Kläger ein Büroraum innerhalb der Lagerhalle zur Verfügung. Die dem Kläger unterstellten Mitarbeiter arbeiten an Packtischen und um diese herum. Diese befinden sich ebenfalls in der Halle, in der Waren mit Hilfe von Gabelstaplern bewegt werden. Der Bereich, auf welchem diese fahren dürfen, wird im Gemeinschaftsbetrieb als "Fläche" bezeichnet. Hiervon zu unterscheiden ist ein speziell gekennzeichneter Bereich, der von den Gabelstaplern nicht befahren werden darf.
Da in der Halle explosionsgefährdete Materialien lagern, ist die Beklagte verpflichtet, bei Bestehen einer akuten Gefährdungslage eine rechtzeitige Evakuierung der Gebäude zu gewährleisten. Der Sammelplatz für die evakuierten Mitarbeiter befindet sich als gesondert grün gekennzeichnete Fläche auf dem Parkplatz. Auf die Fotografie, Bl. 203 d.A., wird verwiesen. Auf dieser Fotografie sind der Büroarbeitsplatz des Klägers mit einem schwarzen Kreuz und der Weg von dort zum Sammelplatz mit einer schwarzen Linie gekennzeichnet.
Am 20. Juni 2018 erstellte der Arzt der arbeitsmedizinischen Abteilung der Beklagten,
Dr. D, eine ärztliche Beurteilung des Klägers. Auszugsweise heißt es darin:
"... Das Gehen auf den gekennzeichneten Gehwegen innerhalb des Werksgeländes und des operativen Bereiches stellt aus medizinischer Sicht kein erhöhtes Unfallrisiko dar. Kritisch zu bewerten ist jedoch das Gehen auf dem Werksgelände innerhalb und außerhalb des operativen Bereichs auf nicht gekennzeichneten Gehwegen. Durch einen erhöhten Stapler-
bzw. LKW-Verkehr besteht hier ein erhöhtes Unfallrisiko. Aufgrund der Gehbehinderung Herr E kann somit die Sicherheit nur eingeschränkt gewährleistet werden. Das hieße, dass Tätigkeiten außerhalb der gekennzeichneten Gehflächen von Herr E nicht begangen werden können.
..
Im Folgenden liste ich die Tätigkeiten aus der Funktionsbeschreibung (Funktion 139 d Teamkoordinator OW3) auf und beurteile diesbezüglich die Einsatzfähigkeit:
Einholen der schichtrelevanten Informationen und Prioritäten vom Schichtleiter
Medizinisch möglich
Personaleinsatzplanung und Steuerung der Mitarbeiter in seinem Team unter Berücksichtigung des Auftragsvolumen, bei Unter- und Überbesetzung Einleiten von Maßnahmen in Abstimmung mit dem Schichtleiter
Eingeschränkt, ohne das Betreten der nicht gekennzeichneten Gehwege, möglich
Umsetzen von flow to work (Einsatz von Mitarbeitern in anderen Abteilungen) nach Anweisung des Schichtleiters
Eingeschränkt, ohne das Betreten der nicht gekennzeichneten Gehwege, möglich
Einteilen, Einweisen und Unterweisen von Mitarbeitern auf den jeweiligen Arbeitsplatz
Das Einweisen und Unterweisen ist nur eingeschränkt, ohne das Betreten der nicht gekennzeichneten Gehwege, möglich
Durchführen von arbeitsplatzbezogenen Unterweisungen im Team zu Themen der Arbeitssicherheit, Qualität
etc. nach Vorgabe
Eingeschränkt, ohne das Betreten der nicht gekennzeichneten Gehwege, möglich
Durchführung von regelmäßigen Meetings zur Weitergabe der allgemeinen Mitarbeiterinformationen und
HS&E-Themen
Möglich
Erster Ansprechpartner ("Kümmerer") für die Mitarbeiter bei Hinweisen und Anliegen des Mitarbeiters,
z.B. einholen von Informationen,
ggf. Weiterleiten an den Schichtleiter
Eingeschränkt, ohne das Betreten der nicht gekennzeichneten Gehwege, möglich
Vorbereiten, Koordinieren und Durchführen von regelmäßigen 1:1 Gesprächen, Kritikgesprächen und Einsatzgesprächen nach Arbeitsunfähigkeit mit den ihm unterstellten Mitarbeitern, Auswertung der Gespräche und Ableitung von Maßnahmen mit dem Schichtleiter
Möglich
Unterstützung des Schichtleiters bei der Jahresurlaubsplanung durch Abstimmung im Team
Möglich
Unterschreiben des Urlaubsscheins für bereits durch den Abteilungsleiter genehmigten Urlaub sowie
ggf. Aktualisierung der Anwesenheit Datenbank
Möglich
Entscheidung der Genehmigung/Ablehnung des unverplanten Urlaubs/ Flexitage innerhalb definierter Vorgaben (
z.B. 7 Tage) sowie Aktualisierung der Anwesenheitsdatenbank
Möglich
Sicherstellen der Einhaltung gesetzlicher und betrieblicher Anforderungen (Arbeitssicherheit, QA, BV, Richtlinien) und deren Umsetzung, bei wiederholten Verstößen Einleitung von Maßnahmen in Abstimmung mit dem Vorgesetzten
Nicht möglich, hier muss der Arbeitsablauf insgesamt in allen Bereichen betrachtet und dementsprechend begangen werden
Trainiert und qualifiziert in allen für die Aufgabenstellung relevanten QA und
HS&E Systemen
möglich
Mitarbeit bei QA und
HS&E relevanten Aufgaben
Möglich
Unterstützung bei der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen
Nicht möglich
Mitarbeit bei Projekten zur Optimierung und Verbesserung von Prozessen und Kennziffern
Eingeschränkt, ohne das Betreten der nicht gekennzeichneten Gehwege, möglich
ggf. Unterstützung des Teams durch operative Mitarbeit auf der Fläche
Nicht möglich
Erstellung von notwendigen Dokumentationen und Berichten (
z.B. SOP, OPL, CBA)
Möglich
Sicherstellung der Verfügbarkeit aller benötigten Arbeits- und Betriebsmittel im Bereich
Möglich
Neben den beschriebenen Aufgaben werden weitere Stellen bezogener Aufgaben erledigt
Keine Beurteilung möglich
Sicherstellung der termin- und qualitätsgerechten Bearbeitung der Aufträge einschließlich der termingerechten Verladung incl. Auftragsabruf und Auftragsstart
Nicht möglich, das erfordert auch die Begutachtung der Aufträge auf der Fläche
Erstellung der Packanweisung unter Beachtung von Gefahrgutsvorschriften und unter Berücksichtigung länderspezifischer Anforderungen
Möglich
Aufträge im System abrufen und starten (SAP LES) sowie Ausdrucken der Packlisten zur weiteren Bearbeitung durch die Packgruppenmitarbeiter/innen
Möglich
Sicherstellung und Mitarbeit bei der ordnungsgemäßen Zusammensetzung der Aufträge gemäß der erstellten Packanweisung
Nicht möglich
Durchführen der Warenausgangsbuchungen
Möglich
..."
Wegen des vollständigen Textes dieser ärztlichen Beurteilung wird auf Blatt 22, 23 der Akten verwiesen.
Am 4. Juli 2018 erfragte Herr F, der Betriebsleiter, bei Herrn
Dr. D eine Einschätzung zur Fähigkeit des Klägers das Gebäude in Notfällen, ohne fremde Hilfe und Hilfsmittel auf den gekennzeichneten Fluchtwegen und Treppen zügig, in angemessener Zeit zu verlassen, um den Sammelplatz zu erreichen. In der ärztlichen Beurteilung vom 11. Juli 2018 heißt es auszugsweise dazu:
"Zum aktuellen Zeitpunkt ist es Herr E allenfalls bei einem Aufenthalt im unmittelbaren Eingangsbereich
bzw. eines seitlichen Notausganges im Erdgeschoss möglich, ohne technische Hilfsmittel, in angemessener Zeit das Gebäude zu verlassen. Der Sammelplatz kann jedoch in angemessener Zeit nicht erreicht werden. Bei Tätigkeiten, die nicht in unmittelbarer Nähe des Eingangsbereichs
bzw. eines seitlichen Notausganges im Erdgeschoss stattfinden ist auch das zeitnahe Verlassen des Gebäudes ohne technische Hilfsmittel nicht möglich. ..."
Wegen des genauen Inhalts dieses Schreibens wird auf Blatt 24 der Akten Bezug genommen.
Am 26. Juli 2018 wurde der Kläger von einer Mitarbeiterin der Personalabteilung zu einem Gespräch am selben Tag um 13:00 Uhr eingeladen. Der Kläger nahm den Gesprächstermin wahr. An dem Gespräch nahm auch Herr G, ein selbständiger Sozialberater teil.
Am Folgetag beschwerte sich der Kläger bei dem im Gemeinschaftsbetrieb gebildeten Betriebsrat über die Überrumpelung und die Hinzuziehung des Herrn G zu dem Gespräch. Wegen des im Anschluss daran gefällten Spruchs der vom Betriebsrat angerufenen und im Rahmen eines Einigungsstelleneinsetzungsverfahrens vergleichsweise eingesetzten Einigungsstelle vom 4. März 2019 hat die Beklagte ein gerichtliches Verfahren zur Anfechtung des Einigungsstellenspruchs eingeleitet. Ihren diesbezüglichen Antrag hat die Beklagte zwischenzeitlich zurückgenommen.
Am 20. August 2018 beantragte die Beklagte die Zustimmung des Integrationsamts zur beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum Kläger (Bl. 24-27 d. A.).
Mit Schreiben vom 27. August 2018 stellte die Beklagte den Kläger widerruflich von der Arbeitsleistung frei (Bl. 28 d.A.).
Die Aufforderung des Klägers über seine Prozessbevollmächtigte, ihn zu beschäftigen, lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 12. September 2018 ab.
Am 26. November 2018 fand bei der Beklagten ein Termin statt. An diesem nahmen zwei Mitarbeiter des Integrationsamts, der Betriebsleiter Herr F, die
HR-Managerin Frau H, die Prozessbevollmächtigte der Beklagten, die Betriebsratsvorsitzende, die Schwerbehindertenvertreterin, der Kläger und seine Prozessbevollmächtigte teil. Zunächst wurde der Arbeitsplatz des Klägers in Augenschein genommen und es wurde festgestellt, dass der Kläger in der Lage ist, die Türen der Halle eigenständig zu öffnen und zu passieren. Herr I, der als Mitarbeiter des Integrationsamts vom technischen Beratungsdienst des Landeswohlfahrtsverbands teilnahm, erklärte in diesem Termin, es sei aus seiner Sicht ausreichend, wenn eine Evakuierung des Klägers zunächst in einen gesicherten Bereich (zB. vor die Halle) erfolge, von wo der Kläger dann zB. durch Paten abgeholt werden könne. Er erklärte dies sei Stand der Technik bei der Evakuierung körperbehinderter Mitarbeiter. Herr F erklärte darauf, es sei in einer lebensbedrohlichen Situation keinem Mitarbeiter zumutbar, sich um eine zusätzliche Person zu kümmern. Als Ergebnis des Termins wurde vereinbart, dass der Kläger auf seiner angestammten Stelle allerdings nicht auf der "Fläche" weiterbeschäftigt werden soll sowie dass der Kläger sich um leichtere Sicherheitsschuhe bemühen werde und dass ein Evakuierungstest stattfinden solle, sobald der Aktivrollstuhl des Klägers eingetroffen sei. Herr F erklärte, dass er wegen der Details der Evakuierung Rücksprache mit der Feuerwehr halten wolle, den Bau einer Rampe abklären werde und herausfinden werde, ob es von Seiten der Feuerwehr machbar sei, dass ein "sicherer Abholort" festgelegt werde. Gegenstand der Besprechung an diesem Termin war auch ein Lohnkostenzuschuss des Integrationsamts.
Seit dem 14. Dezember 2018 steht dem Kläger ein auf Initiative der Beklagten im August 2018 beantragter Rollstuhl zur Verfügung.
Mit Schreiben vom 8. Februar 2019 teilte der Landeswohlfahrtsverband Hessen der Beklagten mit, dass eine Entscheidung über von der Beklagten zu beantragende Leistungen erfolgen werde (Bl. 286, 287 d.A.). In dem Schreiben sind die bereits angebotenen Leistungen wie folgt aufgelistet:
- Kostenübernahme für einen
evtl. notwendigen zweiten Rollstuhl (Leistung an Herrn E)
- 75 % - Bezuschussung einer kleinen gepflasterten Rampe (Überbrückung des Schräghangs im Fluchtweg)
- 75 % - Bezuschussung der Beschaffung eines Elektrofahrzeuges, sofern hier zusätzlicher Bedarf besteht
- Beschäftigungssicherungszuschuss
In dem Schreiben heißt es außerdem:
"... Gestatten Sie uns aber den Hinweis, dass die Leistungen der begleitenden Hilfe grundsätzlich die langfristige Sicherung des Arbeitsverhältnisses zum Ziel haben und aktuell noch ein Kündigungszustimmungsantrag im Raum steht.
Mit freundlichen Grüßen..."
Am 26. Februar 2019 fand im Gemeinschaftsbetrieb der Beklagten ein Evakuierungstest statt, bei dem drei Evakuierungsversuche unternommen worden. Anwesend waren dabei der Kläger, der Betriebsarzt
Dr. D, die Fachkraft für Arbeitssicherheit, der Abteilungsleiter des Klägers, ein Vertreter des Betriebsrats und ein Vertreter der Schwerbehindertenvertretung. Für die Evakuierung zu Fuß unter Einsatz der Unterarmgehstütze benötigte der Kläger bis zum geöffneten Verbindungstor zwischen Werksgelände und Parkplatz 5 Minuten und 26 Sekunden und zum Sammelpunkt auf dem Parkplatz 8 Minuten und 28 Sekunden. Für die Evakuierung mit dem Rollstuhl benötigte der Kläger bis zum geöffneten Verbindungstor zwischen Werksgelände und Parkplatz 8 Minuten und zum Sammelpunkt auf dem Parkplatz 10 Minuten und 46 Sekunden. Für die Evakuierung mit dem Rollstuhl, der von
Dr. D geschoben wurde, benötigte der Kläger bis zum Sammelpunkt auf dem Parkplatz 4 Minuten und 11 Sekunden. Den bei den Evakuierungsversuchen verwendeten Rollstuhl nutzte der Kläger an diesem Tag zum ersten Mal. Die auf dem Evakuierungsweg gelegene Treppe musste der Kläger bei jedem Evakuierungsversuch zu Fuß benutzen. Eine Rampe, die die Benutzung für Rollstuhlfahrer ermöglicht, ist nicht vorhanden.
Die Fachkraft für Arbeitssicherheit hat am 12. März 2019 eine Stellungnahme (Bl. 275 - 282 d.A.) zu dem Evakuierungstest abgegeben. Darin heißt es auszugsweise:
"Im Rahmen dieser Stellungnahme ist die Frage zu beantworten, ob sich Herr E in der aktuellen Situation eigenständig und/ oder unter Zuhilfenahme weiterer Hilfsmittel (
z.B. Rollstuhl) im Notfall retten kann.
Im Ergebnis ... des Evakuierungstest ist festzustellen, dass sich Herr E im aktuellen Gesundheitszustand und unter der Voraussetzungen der in der Gefährdungsbeurteilung beschriebenen Maßnahmen, eigenständig retten kann. Es ist weiterhin festzustellen, dass die Rettung unter Zuhilfenahme eines Rollstuhls sodann als gesichert angesehen werden kann, insofern am Arbeitsplatz die hierfür notwendigen technischen und organisatorischen Maßnahmen (s. hierzu Anlage gesonderte Gefährdungsbeurteilung) ordnungsgemäß umgesetzt werden.
Im Ergebnis des Evakuierungstests ist objektiv festzustellen, dass sich Herr E im aktuellen Gesundheitszustand und unter den Voraussetzungen der in der Gefährdungsbeurteilung beschriebenen Maßnahmen, eigenständig retten kann. Ich verweise an dieser Stelle auf das entsprechende Protokoll von Herr J (s. Anlage). Weitere mögliche Risiken wurden in einer "beispielhaften Gefährdungsbeurteilung" aufgenommen und betrachtet. Die hier benannten Maßnahmen sind
gem. gesetzlicher Vorschriften (s.
ArbSchG § 3) in Verantwortung des Arbeitgebers zu beachten und umzusetzen (s. Anlage). ..."
In der Anlage ist in der Rubrik "Schutzmaßmaßnahmen" ua. vermerkt: "Insofern der Kollege nur mit Rollstuhl arbeiten kann, sind technisch alle zu befahrenen Wege im Unternehmen behindertengerecht
bzw. rollstuhlgerecht auszustatten." "Insofern der Kollege Treppen benutzen muss, sind hierfür rollstuhlgerechte Lösungen (Rampe, Fahrstuhl) zu schaffen." "Es sind die technischen Vorrichtungen (Rampe oder besser Lift) zu schaffen, damit der Kollege den Arbeitsbereich sicher begehen und im Gefahrfall verlassen kann (hier auch elektrischer Türöffner an der Notausgangstür)" "Im Rahmen des Test hat sich ergeben, dass der Kollege derzeit in der Lage ist, sich selber zu Fuß zu retten. Auf Grund der speziellen Erkrankung ist organisatorisch sicherzustellen, dass immer Hilfspersonal für den Fall der Evakuierung bereitsteht
bzw. diese Situation beachtet."
Am 13. März 2019 nahm Herr
Dr. D schriftlich zum Evakuierungstest Stellung. Wegen der Einzelheiten des genauen Inhalts dieses Schreibens wird auf Blatt 290, 291 der Akten verwiesen.
Mit Bescheid vom 5. April 2019 versagte das Integrationsamt die beantragte Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers. Die Beklagte legte dagegen am 11. April 2019 Widerspruch ein.
Mit Schriftsatz, der am 30. Oktober 2018 bei dem Arbeitsgericht Darmstadt eingegangen ist, hat der Kläger Beschäftigungsklage erhoben.
Wegen des gesamten Vortrags der Parteien im Einzelnen im ersten Rechtszug sowie der dort gestellten Anträge wird ergänzend auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 13. März 2019 - 1 Ca 201/18 - Bezug genommen (Bl. 207 - 209 d.A.).
Das Arbeitsgericht hat die Beklagte mit dem vorgenannten Urteil gemäß dem Hauptantrag des Klägers verurteilt, ihn als Teamkoordinator im Bereich OW3 Export Operation zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen zu beschäftigen. Es hat - kurz zusammengefasst - angenommen, der Kläger habe gegen die Beklagte einen Anspruch auf Beschäftigung als Teamkoordinator gemäß § 611
Abs. 1
BGB iVm.
§ 164 Abs. 4 S. 1 SGB IX. Selbst wenn zu Gunsten der Beklagten unterstellt werde, dass der Kläger aufgrund seiner Behinderung unter Sicherheitsaspekten bei Ausübung seiner Tätigkeit als Teamkoordinator die Fläche in der Lagerhalle nicht betreten dürfe, habe die Beklagte jedoch die Einlassungen des Klägers nicht widerlegt, wonach dieser seine Anweisungen an das Team vom Hallenrand aus geben und im Übrigen der zweite, zeitgleich mit ihm eingesetzte Teamkoordinator, ihn auf der Fläche vertreten könne. Es sei nicht ersichtlich, dass der Beklagten insofern eine Umgestaltung der Arbeitsorganisation unzumutbar sei oder dass eine solche Umgestaltung nur mit unverhältnismäßig hohen Aufwendungen erfolgen könne. Es sei auch zu berücksichtigen, dass der Kläger trotz seiner Gehbehinderung mindestens neun Jahre lang als Teamkoordinator tätig war. Auch der Umstand, dass der Kläger nicht in der Lage sei, im Evakuierungsfall den Sammelplatz so schnell zu erreichen wie die übrigen Beschäftigten, stehe dem Beschäftigungsanspruch des Klägers nicht entgegen. Angesichts der Tatsache, dass der Kläger seit mindestens neun Jahren die Unterarmgehstütze benötige sei es nicht gerechtfertigt, ihm den Anspruch auf Beschäftigung zu verwehren, ohne zuvor geklärt zu haben, welche zeitlichen Anforderungen an die Evakuierung des Klägers zu stellen seien. Hinzu komme, dass die Beklagte nicht dargelegt habe, dass die vom Kläger geltend gemachte Unterstützung durch andere Beschäftigte bei der Benutzung eines Rollstuhls im Evakuierungsfall den Sicherheitsvorschriften zuwiderlaufe oder für die Beklagte unverhältnismäßig hohe Aufwendungen nach sich ziehe.
Dieses Urteil ist der Beklagten am 2. April 2019 (Bl. 212 d.A.) zugestellt worden. Sie hat mit Schriftsatz, der am 18. April 2019 bei dem Hessischen Landesarbeitsgericht eingegangen ist, Berufung eingelegt (Bl. 214 f. d.A.). Sie hat ihre Berufung mit Schriftsatz, der am 23. Juli 2019 bei dem Hessischen Landesarbeitsgericht nach rechtzeitig beantragter Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 5. August 2019 (Bl. 229 d.A.) eingegangen ist, begründet (Bl. 230
ff. d.A.).
Die Beklagte meint, aufgrund der ärztlichen Stellungnahme des Herrn
Dr. D vom 13. März 2019 stehe fest, dass der Kläger ohne fremde Hilfe nicht in einer angemessenen Zeit aus der Halle evakuiert werden könne. Fraglich sei deshalb allein, ob es den feuerpolizeilichen Vorschriften und den Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaft entspreche, wenn eine Evakuierung innerhalb einer angemessenen Zeit nur dann möglich sei, wenn Dritte dem Kläger helfen. Darüber hinaus hält sie den Einsatz helfender Kollegen für nicht realisierbar. Die Einstellung eines ausschließlich als Evakuierungshelfer für den Kläger fungierenden Mitarbeiters sei ihr aus Kostengründen unzumutbar. Eine Evakuierung im Rollstuhl sei nicht möglich, bevor nicht die tatsächlichen Voraussetzungen, wie zB. eine Rampe, geschaffen seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 13. März 2019 - 1 Ca 201/18 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt die angegriffene Entscheidung.
Wegen des vollständigen Vortrags der Parteien und des Sach- und Streitstandes im Berufungsrechtszug wird auf die Berufungsbegründungsschrift vom 23. Juli 2019 nebst Anlagen (Bl. 261 - 291 d.A.), den die Berufungserwiderung enthaltenden Schriftsatz vom 5. September 2019 nebst Anlagen (Bl. 312 - 355 d.A.) sowie den Hinweis des Gerichts an die Beklagte vom 14. Oktober 2019 (Bl. 359 d.A.) verwiesen.
A) Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt ist zulässig. Das Rechtsmittel ist nach dem Wert des Streitgegenstandes statthaft (§§ 64
Abs. 2, 8
Abs. 2
ArbGG). Die Beklagte hat es auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 519, 520
ZPO, 66
Abs. 1
ArbGG).
B) Die Berufung der Beklagten ist hingegen ohne Erfolg.
1. Die Berufungskammer folgt der bereits vor mehr als 30 Jahren begonnenen (
BAG 10. November 1955 - 2 AZR 591/54 - ) und seither von allen mit dieser Frage befassten Senaten des Bundesarbeitsgerichts fortgesetzten Rechtsprechung, dass der Arbeitgeber grundsätzlich im bestehenden Arbeitsverhältnis auch verpflichtet ist, seinen Arbeitnehmer vertragsgemäß zu beschäftigen, wenn dieser es verlangt. Rechtsgrundlage eines solchen Beschäftigungsanspruchs des Arbeitnehmers ist das Arbeitsvertragsrecht. Der Anspruch ist abzuleiten aus den §§ 611a, 613
BGB in Verbindung mit § 242
BGB. Die Generalklausel des § 242
BGB wird dabei ausgefüllt durch die Wertentscheidung der
Art. 1 und 2
GG. Da der Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers Teil des allgemeinen Persönlichkeitsschutzes ist, muss der Arbeitnehmer mit seinen Rechten nur dann zurücktreten, wenn überwiegende und schutzwürdige Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen.
2. Die Berufungskammer folgt den Gründen der angefochtenen Entscheidung zunächst hinsichtlich der Ausführungen auf Seite 7 des Urteils und stellt dies fest, § 69
Abs. 2
ArbGG.
3. Die Beklagte hat keine Gründe dargelegt, die angesichts dieser Vorgaben einen Grund erkennen lassen, aufgrund dessen der Beschäftigungsanspruch des Klägers vorliegend zurücktreten müsste.
a) Sicherheitsaspekte im Hinblick auf ein eventuelles Evakuierungsszenario können ein überwiegendes Interesse der Beklagten an einer Nichtbeschäftigung des Klägers nicht rechtfertigen, bevor die Beklagte nicht die ihr obliegenden Verpflichtungen aus § 3a
Abs. 2
ArbStättV und § 10
ArbSchG zur barrierefreien Gestaltung von Arbeitsplätzen erfüllt. Aus der fortgesetzten Missachtung gesetzlicher Pflichten seitens der Beklagten folgt weder ein überwiegendes und erst Recht kein schutzwürdiges Interesse an der Nichtbeschäftigung des Klägers. Dies gilt zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz erst recht, weil die Beklagte die ihr (spätestens) aufgrund der Stellungnahme der Fachkraft für Arbeitssicherheit vom 12. März 2019 erforderlichen technischen Vorrichtungen und Unterstützungsleistungen zum Großteil immer noch nicht geschaffen hat.
b) Auch arbeitsvertragliche Gründe können ein überwiegendes und schutzwürdiges Interesse der Beklagten an einer Nichtbeschäftigung des Klägers nicht rechtfertigen. Soweit die Beklagte - teils mit unterschiedlichen prozentualen Angaben - behauptet, der Kläger vermöge einen erheblichen Anteil seiner arbeitsvertraglich geschuldeten Leistung nicht (mehr) zu erbringen, folgt daraus kein überwiegendes und schützenswertes Interesse der Beklagten an der Nichtbeschäftigung des Klägers, denn der diesbezügliche Vortrag der Beklagten ist tatsächlich nicht hinreichend plausibel.
aa) Ausweislich der ärztlichen Beurteilung des
Dr. D vom 20. Juni 2018, die sich wegen der Einsatzfähigkeit des Klägers streng an der Funktionsbeschreibung
Nr. 159d orientiert - die Angabe im Schreiben "Funktion 139 d" ist eine offensichtliche Falschbezeichnung - sind dem Kläger lediglich 5 von berücksichtigten 25 von 26 Teilaufgaben nicht möglich, 13 Teilaufgaben kann er uneingeschränkt erledigen und 6 Teilaufgaben sind ihm ebenfalls möglich, wenn er die nicht gekennzeichneten Gehwege nicht betritt. Alle diese 6 Teilaufgaben (- Personaleinsatzplanung und Steuerung der Mitarbeiter in seinem Team unter Berücksichtigung des Auftragsvolumens, bei Unter- und Überbesetzung Einleiten von Maßnahmen in Abstimmung mit dem Schichtleiter, - Umsetzen von flow to work (Einsatz von Mitarbeitern in anderen Abteilungen) nach Anweisung des Schichtleiters, - Durchführen von arbeitsplatzbezogenen Unterweisungen im Team zu Themen der Arbeitssicherheit, Qualität
etc. nach Vorgabe, - Erster Ansprechpartner ("Kümmerer") für die Mitarbeiter bei Hinweisen und Anliegen des Mitarbeiters,
z.B. einholen von Informationen,
ggf. Weiterleiten an den Schichtleiter, - Mitarbeit bei Projekten zur Optimierung und Verbesserung von Prozessen und Kennziffern) bedürfen der Kommunikation mit den Mitarbeitern der Schicht. Nachdem der Kläger dargelegt hat, dass er die Kommunikation mit den ihm zugeordneten Mitarbeitern der Schicht jeweils auch ohne Betreten der nicht gekennzeichneten Gehwege führen kann, die Beklagte diesen Darlegungen nicht hinreichend entgegengetreten ist, kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger einen überwiegenden Teil seiner Aufgaben als Teamkoordinator nicht erfüllen kann.
C) Die Kosten ihres erfolglos eingelegten Rechtsmittels hat die Beklagte zu tragen, § 97
Abs.1
ZPO.
Ein gesetzlicher Grund für die Zulassung der Revision besteht nicht.