Widerspruchs- und Klageverfahren im Sozialrecht

Lehnt ein Leistungsträger (Kostenträger) einen Antrag auf Kostenübernahme zum Beispiel für ein Hilfsmittel oder eine technische Arbeitshilfe ab, kann man Widerspruch einlegen. Im weiteren Verlauf ist auch eine Klage möglich.

In vielen Fällen haben Leistungsberechtigte (Person, die den Anspruch auf eine Leistung hat) damit Erfolg. Sie müssen aber bestimmte Vorgaben beachten und sich darauf einstellen, dass ein gerichtliches Verfahren lange dauern kann. Regelmäßig muss im Sozialrecht erst ein Widerspruchsverfahren vor einem Gerichtsverfahren durchgeführt werden.

In den meisten Fällen teilen die Leistungsträger ihre Entscheidungen (Verwaltungsakt) schriftlich mit. Werden Leistungsberechtigte nur mündlich z. B. per Telefon über die Entscheidung informiert, haben sie das Recht die Entscheidung in Schriftform anzufordern. Die Entscheidung muss eine Rechtsbehelfsbelehrung beinhalten, die darauf hinweist, welche Fristen und Formalien für den Widerspruch zu beachten sind.

Innerhalb der geltenden Fristen müssen Leistungsberechtigte den Widerspruch schriftlich bei dem entsprechenden Leistungsträger oder mündlich zur Niederschrift in einer Geschäftsstelle des Leistungsträgers einlegen:

  • Frist ein Monat: Die Widerspruchsfrist beträgt einen Monat, wenn der Ablehnungsbescheid eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält.
  • Frist ein Jahr: Die Frist verlängert sich, wenn die Rechtsbehelfsbelehrung im Ablehnungsbescheid fehlt oder fehlerhaft ist.
  • Fristbeginn: Die Frist beginnt, wenn der Ablehnungsbescheid der leistungsberechtigten Person zugegangen ist.

Frist Widerspruchsbegründung: Man kann den Widerspruch sofort begründen oder mit einer Anmerkung nachreichen - beispielsweise mit dem Wortlaut „Die Begründung dieses Widerspruchs erfolgt gesondert.“ Eine feste Frist für die Begründung des Widerspruchs gibt es nicht. Im eigenen Interesse sollte diese aber möglichst schnell erfolgen.

Hinweis: Elektronisch kann ein Widerspruch nur mit einer qualifizierten elektronischen Signatur oder durch eine De-Mail nach dem De-Mail Gesetz eingelegt werden. Eine einfache E-Mail ist nicht ausreichend!

Ein Widerspruchsschreiben können Leistungsberechtigte frei formulieren oder durch eine anwaltliche Vertretung verfassen lassen. Ist der Widerspruch erfolgreich, erstatten die Leistungsträger die Rechtsanwaltskosten.

Wichtig ist, im Widerspruch ausführlich den Grund für die begehrte Leistung darzulegen und mit Nachweisen zu belegen.

Sobald die ablehnende Entscheidung des Leistungsträgers vorliegt, sollten Leistungsberechtigte ggf. mit sachkundiger Hilfe, meist also mit Rechtsanwälten oder Rechtsanwältinnen und bei medizinischen Sachverhalten zusätzlich mit Ärztinnen oder Ärzten gemeinsam prüfen, ob die rechtliche und ggf. medizinische Bewertung des Leistungsträgers zutrifft und ob alle wichtigen Aspekte berücksichtigt wurden. Eine ärztliche Stellungnahme kann als Nachweis hilfreich sein, wenn es sich um einen medizinischen Sachverhalt handelt. Der Leistungsträger darf zwar nach Aktenlage entscheiden, muss aber alle bedeutsamen Umstände für den jeweiligen Einzelfall berücksichtigen und die Entscheidungsgründe darlegen.

Stützt sich der Leistungsträger bei der Ablehnung auf ein Gutachten, beispielsweise des Medizinischen Dienstes (MD) oder einer externen Begutachtung, sollten Leistungsberechtigte  dieses anfordern und gegebenenfalls mit der behandelnden fachärztlichen Person sorgfältig prüfen. Bei Fehlern oder einer mangelhaften Berücksichtigung der Lebensumstände sollten Leistungsberechtigte den Sachverhalt richtigstellen. Wurde das medizinische Gutachten lediglich nach Aktenlage angefertigt, sollten Leistungsberechtigte eine persönliche Begutachtung anregen. Leistungsberechtigte haben ein Recht auf Akteneinsicht nach § 25 SGB X.

Auf telefonische oder schriftliche Anfragen der Leistungsträger, ob Leistungsberechtigte ihren Widerspruch nach der Begründung aufrecht halten, müssen Leistungsberechtigte nicht reagieren! Durch den Widerspruch haben sie bereits deutlich gemacht, dass sie mit der Entscheidung nicht einverstanden sind.

Hinweis: Immer wieder gibt es Probleme, weil Anträge, Widersprüche oder sonstige Dokumente bei Leistungsträgern nicht angekommen sein sollen. Leistungsberechtigte müssen deswegen darauf achten, dass sie nachweisen können, dass die Leistungsträger die Dokumente auch tatsächlich erhalten haben. Das ist möglich durch Versenden vorab per Fax mit Sendebericht. Ebenso kann der Widerspruch direkt beim Leistungsträger abgegeben werden und man lässt sich den Eingang auf einer Kopie des Widerspruchs bestätigen. Bei einem (Einwurf-) Einschreiben oder Einwurf in den Briefkasten des Leistungsträgers wird immer eine Person benötigt, die bezeugen kann, was in dem Umschlag enthalten ist sowie dass dieser versandt bzw. abgegeben wurde.

Sollte der Leistungsträger über den eingelegten Widerspruch nicht innerhalb von drei Monaten entscheiden, können Leistungsberechtigte auch ohne anwaltliche Vertretung eine Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) vor dem Sozialgericht erheben. Leistungsberechtigte müssen dem Sozialgericht den Ablehnungsbescheid sowie den Widerspruch mit der Klage übersenden. Da Untätigkeitsklagen in vielen Fällen Erfolg haben, erstatten die Leistungsträger auch die Kosten für eine anwaltliche Vertretung.

Die Untätigkeitsklage hat keinen Einfluss auf die Entscheidung in der Sache, sondern bewirkt nur, dass der Widerspruch abschließend bearbeitet wird.

Nach § 18 SGB IX können Leistungsberechtigte sich eine Leistung zur Rehabilitation nach § 18 SGB IX selbst beschaffen, wenn nach Ablauf von zwei Monaten keine schriftlich begründete Mitteilung durch den Leistungsträger erfolgt. Die Leistung gilt dann als genehmigt. Diese Regelung gilt aber nicht für die Träger der Eingliederungshilfe, öffentlichen Jugendhilfe und bei Leistungen zur Teilhabe der Sozialen Entschädigung.

Sollte der Leistungsträger den Widerspruch abweisen, können Leistungsberechtigte vor dem Sozialgericht klagen. Bei Klagen gegen Entscheidungen des Integrationsamtes/Inklusionsamtes ist das Verwaltungsgericht zuständig.

Die Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid muss darauf hinweisen, dass die Klage innerhalb eines Monats erhoben werden kann und das zuständige Sozialgericht benennen. Fehlt die Rechtsbehelfsbelehrung oder ist sie fehlerhaft, verlängert sich die Klagefrist auf ein Jahr.

Die Frist beginnt, wenn der Widerspruchsbescheid der leistungsberechtigten Person zugegangen ist.

Leistungsberechtigte können die Klage schriftlich bei dem zuständigen Sozialgericht einreichen oder die Klage mündlich zu Protokoll geben. Zuständig dafür sind die Mitarbeitenden der Rechtsantragsstelle beim jeweiligen Sozialgericht, die auch bei der Formulierung helfen.

Im Verfahren vor dem Sozialgericht fallen keine Gerichtsgebühren an. Ebenso übernimmt die Staatskasse ein eventuell vom Gericht beauftragtes Sachverständigengutachten. Sollte dieses für Leistungsberechtigte ungünstig sein, können sie auf eigene Kosten einen weiteren eigenen Sachverständigen hinzuziehen. Hat die Klage Erfolg, muss der Leistungsträger die Kosten für die anwaltliche Vertretung erstatten.

Leistungsberechtigte können die Akten bei Gericht einsehen und sich selbst vertreten. Wegen der komplexen Rechtsmaterie ist eine anwaltliche Vertretung vor dem Sozialgericht allerdings empfehlenswert.

Wenn Leistungsberechtigte die Widerspruchs- oder Klagefrist nicht einhalten, können sie die Leistung erneut beantragen oder einen sogenannten Überprüfungsantrag stellen (§ 44 SGB X). Dadurch entstehen jedoch weitere Verzögerungen zulasten der Leistungsberechtigten.

Wird eine Leistung abgelehnt, kann diese auf eigene Kosten selbst beschafft werden und die verauslagten Kosten können im Widerspruchs- und Klageverfahren geltend gemacht werden.

Wer wirtschaftlich nicht in der Lage ist, die Leistung selbst zu beschaffen, die Leistung aber dringend benötigt und nicht den Ausgang des Widerspruchs- und ggf. Klageverfahrens abwarten kann, kann eine einstweilige Anordnung beim Sozialgericht beantragen. Leistungsberechtigte benötigen dafür formal keine anwaltliche Vertretung, jedoch ist diese auch hier empfehlenswert. Das normale Widerspruchs- oder Klageverfahren läuft bis zu dessen rechtskräftigen Abschluss weiter.

Das Gericht prüft in dem Fall grob, ob ein Anspruch (Anordnungsanspruch) auf die Leistung besteht und ob ein Eilbedürfnis (Anordnungsgrund) vorliegt.

Mit der einstweiligen Anordnung kann der Leistungsträger verpflichtet werden, die leistungsberechtigte Person vorläufig mit der beantragten Leistung zu versorgen, um unzumutbare Nachteile abzuwenden. Ob tatsächlich ein Anspruch auf die Leistung besteht, wird im Widerspruchs- und ggf. Klageverfahren geklärt.

Hinweis: Stellt sich z. B. im Klageverfahren raus, dass kein Anspruch auf die Leistung bestand, kann der Leistungsträger die verauslagten Kosten vom Leistungsberechtigten zurückfordern.

Eine Rechtsschutzversicherung kann das Kostenrisiko für die Rechtsanwaltskosten verringern, allerdings zahlt diese im Sozialrecht häufig erst ab dem Klageverfahren. Hier kommt es auf den jeweiligen Versicherungsvertrag an. Die Rechtsschutzversicherung hat für Leistungsberechtigte außerdem den Vorteil, dass diese auch die Kosten für ein weiteres Sachverständigengutachten (hier ist mit Kosten von circa 2.000 EUR zu rechnen) übernimmt, beispielsweise wenn das vom Sozialgericht eingeholte Sachverständigengutachten für Leistungsberechtigte ungünstig ist.

Darüber hinaus können Personen, die die erforderlichen Mittel für eine anwaltliche Vertretung aus persönlichen oder wirtschaftlichen Gründen (z. B. Bezug von Bürgergeld, Grundsicherung nach SGB XII oder BAföG) nicht aufbringen können, finanzielle Hilfen zur Rechtsdurchsetzung erhalten.

Die Beratungshilfe umfasst die Beratung und rechtliche Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin gegenüber Dritten außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens und ist im Sozialrecht ab dem Widerspruch möglich.

Ein Antrag auf Beratungshilfe ist beim örtlich zuständigen Amtsgericht zu stellen. Leistungsberechtigte müssen ihre Einkommens- und Ausgabennachweise sowie Unterlagen der konkreten rechtlichen Streitigkeit vorlegen. Hierzu genügt in den meisten Fällen der Ablehnungsbescheid des Leistungsträgers. Das Amtsgericht stellt einen so genannten Beratungshilfeschein aus, mit dem die Beratung und ggf. anwaltliche Vertretung in Anspruch genommen werden kann. Die Beratungshilfe kann auch direkt über die anwaltliche Vertretung nach Vorlage der Einkommens- und Vermögensnachweise gestellt werden. Die anwaltliche Vertretung kann 15,00 EUR in Rechnung stellen.In den Bundesländern Bremen und Hamburg wird die Beratungshilfe ausnahmsweise nur durch öffentliche Stellen gewährt - in Bremen zum Beispiel durch die Arbeitnehmerkammer und den Anwaltsverein.

Die Prozesskostenhilfe (§ 114 ZPO) deckt die Kosten für die anwaltliche Vertretung bei Gericht oder Gerichtskosten für ein Gerichtsverfahren ab.

Sie wird allerdings nur gewährt,

  • wenn Leistungsberechtigte wirtschaftlich nicht in der Lage sind, eine anwaltliche Vertretung zu bezahlen,
  • die Klage oder der Antrag auf eine einstweilige Anordnung Aussicht auf Erfolg hat,
  • der Prozess nicht mutwillig erscheint und
  • die anfallenden Kosten nicht von einer Rechtsschutzversicherung oder einer anderen Stelle übernommen werden.

Je nach wirtschaftlichen Verhältnissen der leistungsberechtigten Person wird zwischen der Prozesskostenhilfe ohne und mit Ratenzahlung unterschieden.

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe ist bei dem Prozessgericht zu stellen, wo die Klage eingereicht wird (§ 73a SGG, § 117 ZPO). Im Antrag müssen die Leistungsberechtigten den Streit mit den Beweismitteln darlegen und ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse mit entsprechenden Nachweisen belegen. Häufig wird der Antrag direkt mit der Klage über die anwaltliche Vertretung gestellt.

Hinweis: Wer Prozesskostenhilfe beantragt, verpflichtet sich dazu, in den vier Jahren nach rechtskräftigem Abschluss des gerichtlichen Verfahrens alle Änderungen in den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen mitzuteilen. Das Gericht kann dies außerdem nachprüfen. Verbessern sich die wirtschaftlichen Verhältnisse, müssen die Kosten für den Rechtsstreit (in Verfahren vor den Sozialgerichten sind hiervon nur die Kosten für die anwaltliche Vertretung betroffen) an die Staatskasse zurückgezahlt werden.

Rechtsberatungen sind zum Beispiel bei Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen für Sozialrecht sowie bei Verbänden oder Selbsthilfeorganisationen für Mitglieder möglich. Manche Selbsthilfeorganisationen bieten mit der Mitgliedschaft auch einen Zusatzvertrag für eine rechtliche Vertretung an.

Einige Rechtsberatungsstellen gibt es hier:

  • Sozialverband VdK Deutschland e. V.
  • Sozialverband Deutschland e. V. (SoVD)
  • rbm gGmbH - „Rechte behinderter Menschen“ des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.)
  • Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e. V. (BSK)
  • Deutscher Diabetiker Bund e. V.
  • Medizinrechts-Beratungsnetz der Medizinrechtsanwälte e. V.

Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB)

Seit 2018 gibt es die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB). Die EUTB richtet sich an Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen sowie deren Angehörige. Die Beratung ist kostenlos. Die EUTB bieten zwar weder Rechtsberatung noch -vertretung an, können jedoch z.B. bei der Antragstellung helfen oder um einen Überblick zu erhalten, welche Leistungen wo beantragt werden können.

Dieser Artikel wurde in Kooperation mit Rechtsanwältin Sabine Westermann erstellt (Stand: Februar 2024).